Feldpostbriefe: Brief eines deutschen Soldaten, Februar 1944 (Veröffentlicht am 28.06.2022)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Aus einem Brief des deutschen Soldaten Kurt Habernoll, geb. 1922, Schriftsteller und Schauspieler, an einen unbekannten Empfänger im Februar 1944
(Quelle: Lilli Vetter, Briefe aus jener Zeit, S. 115 ff.):

„… und was die Bombardierung der Städte anlangt, so ist die Allgemeinheit und genau so wenig die Führung berechtigt, sich in eine Schauer-, Grauenpsychose hineinzusteigern! Was heißt denn ‚unschuldige Menschen‘? Trifft es nicht immer die ‚Unschuldigen‘?, ist der Soldat etwa mehr ‚schuld‘ an diesem Krieg, der zu Millionen auf allen Seiten der Schlachtfelder fällt?! Wer ist berechtigt, etwa über die Zerstörung des Kölner Doms zu jammern und zu schimpfen? Keiner! Denn wer von diesen Menschen hat jemals in dieser Kirche inbrünstig zu Gott gebetet? Niemand!

Was gelten Kulturdenkmäler, wenn sie nicht zu dem und zu mehr anfeuern, wofür sie als Denk- mäler stehen? — Was sind denn die Menschen besseres als Vernichtung wert, die in Kulturbestand und Lebensannehmlichkeiten nicht mehr als ihr ‚rechtmäßiges Alltagskleid‘ gesehen haben? Die nun jammern, weil sie körperlich nackt scheinen und seelisch nackt sind?! … Was gilt die Rederei der Politiker und politischen Fanatikern hier wie dort; es geht ihnen doch bloß um Macht und Besitz! Das alte Urübel der Menschheit, anderen befehlen zu wollen (meist sind’s die, die nicht einmal ihrer eigenen Seele gehorchen konnten und die dafür ‚Ersatz‘ suchen) — die Sucht nach Besitz ohne Anrecht! Ach, es ist müßig darüber zu reden. Es gibt auch, weiß Gott, wichtigere Dinge. Wir müssen uns etwas schaffen, was nicht durch Bomben zerstört werden kann! — Der Wiederaufbau der neuen Welt wird durch keinen der ‚Führer der Nationen‘ gewährleistet werden, noch weniger durch die mehr oder weniger prominenten Marktschreier, die diesen Führern hinterherlaufen. Nein, nur die Stärke eines lebendigen Kulturwillens der Völker — der Menschheit — kann das erreichen und wird es erreichen! — Der Geist, der die Menschen beseelt, ist entscheidend für ihr Leben und ihr Sterben. Aber nicht die Bomben, nicht die Proklamationen und nicht die Programme der Sieger.

Entscheidend kann letztlich nie die Menge an Munition, Maschinen oder Geld sein, sondern nur die Anzahl der Menschen mit echter innerlicher Lebensberechtigung.

Und das ist auch der tiefere, allerdings von den Urhebern nicht beabsichtigte Sinn des Krieges; er entkleidet die Menschen mehr oder weniger gewaltsam ihrer verfluchten Hüllen und Masken. Leben wird nachher nur, d. h. wirklich und mit Berechtigung leben!, nur der, dessen Lebensziele über das ‚tägliche Brot‘ und die Wohnung mit ‚fließendem Wasser‘ weit, sehr weit hinausgehen.

Unsterblich allein ist der Geist, der immer neu und immer Neues schafft — Beethovens Symphonien und Goethes Verse kann keine Bombe treffen — und eines wächst (vor allem für die junge Generation) Pflicht und Verantwortung vor der Zukunft! Und das ist es, was mich über Trauer und Schmerz, ganz tief erfüllt — der Glaube, dass ich zu dieser kommenden Generation gehören werde, die die neue Welt einmal aufbauen wird! — Solange in jedem Frühjahr die Knospen aufbrechen, solange müssen auch wir, die wir ja nur ein kleiner Teil dieser Natur sind — leben, leben wollen und an unserer Lebensberechtigung arbeiten, leiden und kämpfen.

Hoffentlich hat Klaus bald Gelegenheit sich zu melden — aber eines weiß ich, fühle ich sicher, dass er lebt und eines Tages mit uns ein Wiedersehen feiern wird!

Seid alle herzlichst gegrüßt!

Kurt“

 

Kurt Habernoll überlebte den Krieg. Als Schauspieler wirkte er im Jahr 1959 an dem deutschen Anti-Kriegsfilm „Die Brücke“ von Bernhard Wicki mit.

 

(Titelfoto: Ehrenfriedhof Heidelberg, April 2022)

 

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