Die Legende

Über Julius Erasmus und seine Tätigkeit finden sich aktuell in fast allen Quellen die mehr oder weniger gleichen Aussagen.

 

Als erstes Beispiel mag der Text dienen, mit dem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. die Kriegsgräberstätte in Vossenack beschreibt. Darin heißt es zu Julius Erasmus:

„Auf dem Ehrenfriedhof Vossenack ruhen 2347 Kriegstote des Zweiten Weltkrieges. Untertrennbar verbunden mit dem Soldatenfriedhof ist der Pionierhauptmann Julius Erasmus. Julius Erasmus war Textilfabrikant in Aachen und wurde später Pionierhauptmann der Wehrmacht.

‚Im Sommer 1945 kam ich nach Vossenack zurück‘, so erzählte er später. ‚Ich hatte meine gesamte Habe verloren, der Krieg hatte mir alles genommen. Und da fand ich sie in den Chausseegräben, am Waldrand, unter zerschossenen Bäumen. Ich konnte sie einfach nicht da liegen sehen, unbestattet und vergessen. Es ließ mir keine Ruhe.‘

Zunächst begrub Erasmus etwa 120 Gefallene an den Waldrändern, bis ihm die Gemeinde ein Stück Land auf dem Gemeindefriedhof nahe der Kirche zur Verfügung stellte. Männer aus dem Dorf halfen Erasmus bei seiner Arbeit. In Ortspfarrer Dr. Eschweiler fand er einen besonders treuen Freund und unermüdlichen Helfer. Die Gebeine der Toten wurden in Papiersäcke gelegt, meist auf einen Pferdekarren verladen und auf dem Gemeindefriedhof bestattet. Etwa 800 Tote fanden dort bis zum August 1949 ihre Ruhestätte.

1569 deutsche Gefallene hat Erasmus – meist unter Einsatz seines Lebens – im Hürtgenwald geborgen. Der Wald brannte an vielen Stellen noch und war vermint. Er hat die Daten der Gefallenen aufgeschrieben, die Toten begraben, Grablagepläne und Belegungslisten angefertigt und mit einfachen, selbst hergestellten Holzkreuzen die Gräber gekennzeichnet; von niemanden beauftragt, von niemanden angestellt, von niemanden bezahlt.

Schon bald war der Platz auf dem Gemeindefriedhof zu klein. 1949-1952 legte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit seinem Chefarchitekten Robert Tischler auf der seinerzeit erbittert umkämpften Höhe 470 den heutigen Ehrenfriedhof Vossenack an. Erasmus wurde Mitarbeiter des Volksbundes. Er war ein eigenwilliger Mensch und lebte über 15 Jahre in einer Hütte am Wald, in der Nähe des Friedhofes. In den sechziger Jahren verließ er Vossenack. Seine weitere Spur hat sich verloren. Wo er sein Grab fand, weiß bis heute niemand ….“

 

In einer Publikation des Geschichtsvereins Hürtgenwald aus dem Jahr 1997 mit dem Titel „Erinnerungen an den Hürtgenwald im II. Weltkrieg und in der Nachkriegszeit – Zeitzeugen im Hürtgenwald, Folge 3“ findet sich auf S. 30 f. ein kurzer Artikel des damaligen 1. Vorsitzenden des Geschichtsvereins, Dr.-Ing. Leo Messenig, über Julius Erasmus („Erinnerung an einen Totengräber – Julius Erasmus und der Hürtgenwald“). Darin heißt es:

„Wer war Julius Erasmus? Er ist vergessen, und seine Spur hat sich verloren. Aber dennoch: Das, was er in Vossenack unauffällig und still getan hat, war nicht selbstverständlich. Er verdient es, dass sein Name hoch in Ehren gehalten wird, denn er hat vielen Soldaten die letzte Ruhe gegeben, jungen Menschen, die sinnlos starben und noch im Tode – wie nutzlos weggeworfen – im zerstörten, verminten Hürtgenwald herumlagen.

Julius Erasmus war vorher Textilfabrikant in Aachen und später Hauptmann der Wehrmacht. Beim Kampf eingeschlossen, blieb er im Wald zurück, in den sich auch die Amerikaner zunächst nicht hineinwagten. Da sah er die vielen toten Soldaten umherliegen. Er machte sich an die Arbeit.

1.569 tote deutsche Soldaten hat er aus dem Hürtgenwald geholt, die meisten zu einer Zeit, da der Wald noch brannte und niemand es wagte, ihn zu betreten. Er hat sie begraben, hat die Erkennungsnummer notiert, hat Grablagepläne und Listen angefertigt, hat die ersten primitiven Holzkreuze gebastelt – von niemandem beauftragt, von niemandem angestellt, von niemandem bezahlt.

Männer aus dem Dorf halfen ihm bei seiner Arbeit. Die Gebeine eines jeden Toten wurden in jeweils eine Papiertüte getan; von den Gefallenen hatte die Zeit nicht mehr viel übrig gelassen. Zunächst wurden sie auf einen Pferdekarren verladen und auf dem Gemeindefriedhof nahe der Kirche bestattet. Nach der Einrichtung des Soldatenfriedhofes wurden sie umgebettet.

Als er eben den 532. Soldaten geborgen hatte, meldeten sich auch die inzwischen wieder entstandenen deutschen Behörden. Sie meldeten sich mit einem Verbot, in den Hürtgenwald zu gehen und Gefallene zu beerdigen. Alles muss ja schließlich seine Ordnung haben, und es kann nicht jeder machen, was er will. Julius Erasmus ging dann morgens vor vier Uhr.

Inzwischen wurde der Soldatenfriedhof Vossenack vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge übernommen und ordentlich hergerichtet. Erasmus wurde Beauftragter dieses Bundes.

Über 15 Jahre hat er in seiner Hütte am Wald in nächster Nähe dieser Ruhestätte gelebt. Tag für Tag ist er uneigennützig hinausgezogen, um die zu bergen, denen ihr junges Leben genommen wurde, bevor sie es erfüllen konnten.

Welch’ ein Mensch! Sicherlich ein eigenwilliger Kauz, der ein alternatives Leben fernab der bürgerlichen Gesellschaft führen wollte, wie man nach heutigem Sprachgebrauch sagen würde. In den sechziger Jahren verließ er Vossenack. Seine weitere Spur führt in das Dunkel der Vergessenheit.“

 

Soweit die derzeit landläufige Erzählung über Julius Erasmus und sein Tun, die hier als „die Legende“ bezeichnet wird. Erste Ergebnisse einer Überprüfung von Aspekten dieser Legende finden sich im Abschnitt „Fragen & Antworten“.

 

(Titelfoto: Julius Erasmus um 1960
[Quelle: privat, Fotograf: Jürgen Theis, Düsseldorf];
Soldatenfriedhof Vossenack in den 1950er Jahren
[Quelle: Archiv Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Kassel])