Feldpostbriefe: Brief eines US-Soldaten an seinen Sohn während des Zweiten Weltkriegs (Veröffentlicht am 28.12.2022)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Ein amerikanischer Soldat schreibt während des Zweiten Weltkriegs an seinen Sohn
(Quelle: Brubeck/Hollins, The story of the 310th infantry regiment, 78th infantry division in the war against Germany, 1942-1945, S. 8 f., Übersetzung aus der englischen Sprache):

 

More terrible than all the words

(“Furchtbarer als alle Worte”)

 

„MEIN SOHN:

Der Krieg ist schrecklicher, als alle Worte der Menschen sagen können; schrecklicher, als der Verstand eines Menschen begreifen kann.

Es ist der Leichnam eines Freundes; vor einem Moment noch ein lebendiger Mensch mit Gedanken, Hoffnungen und einer Zukunft – genau wie Du selbst – jetzt nichts mehr.

Es sind die Augen von Männern nach einer Schlacht, wie trübes Wasser, lichtlos.

Es sind Städte – verlorene Arbeit von Generationen – jetzt staubige Haufen von zerbrochenen Steinen und gesplittertem Holz – tot.

Es ist der totale Schmerz von hundert Millionen Menschen, die von ihren Lieben getrennt wurden – manche für immer.

Es ist die Unmöglichkeit, eine Zukunft zu planen; die Ungewissheit, die jeden hoffnungsvollen Traum verhöhnt.

Denk daran! Es ist die Realität dieser Dinge – nicht die Worte.

 

Es ist das Geräusch einer explodierenden Granate; ein Moment der Stille, dann der gellende Schrei ‚SANITÄTER!‘, der eilig von Kehle zu Kehle dringt.

Es ist das Stöhnen und der Schmerz der Verwundeten und der Ausdruck auf ihren Gesichtern.

Es ist das Weinen der neuen Soldaten vor der Schlacht und das noch lautere Schweigen danach.

Es ist der Dreck, der Juckreiz und der Hunger, das unendliche körperliche Unbehagen, das Gefühl, ein Tier zu sein, die tiefe Müdigkeit, die zum Sterben einlädt.

Es ist der Kampf, der Verwirrung, Angst, Hass, Tod, Elend und vieles mehr bedeutet.

Die Realität – nicht die Worte. Denk daran!

 

Es ist das böse, kichernde Wissen, dass das Gesetz des Durchschnitts jeden Soldaten früher oder später einholen wird, und die schreckliche Hoffnung, dass dies in Form einer Verwundung geschieht und nicht durch Verstümmelung oder Tod.

Es sind Jungen von 19 Jahren, die vielleicht in der Schule sein oder im Park flirten könnten; Ehemänner, die ihren Frauen von einer Gehaltserhöhung erzählen könnten – zärtlich und mit glücklichen Augen; Väter, die ihren Söhnen das Werfen eines Balls beibringen könnten – strahlend vor Stolz. Es sind diese Männer, deren Münder und Wesen hässlich vor Hass und Angst sind und die ein Bajonett in den Körper anderer Männer treiben.

Es ist die ‚Kampfmüdigkeit‘ [‚battle fatigue‘], eine schöne Bezeichnung dafür, dass man mehr eingesteckt hat, als Hirn und Herz ertragen können, und sich in eine unwirkliche Schattenwelt flüchtet.

Es sind die Verstümmelten, die nach Hause kommen; Mitleid fürchtend, Versagen fürchtend, das Leben fürchtend.

Es sind viele Millionen kostbare Jahre verlorener Menschenleben, und die Beobachtung des Verlustes Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, bis die Hoffnung zu einem hässlichen, höhnischen Ding wird.

Denk daran! Merke Dir diese Dinge und multipliziere sie mit der größten Zahl, die Du kennst. Dann wiederhole sie immer und immer wieder, bis sie lebendig und brennend in Deinem Geist sind.

Denk daran! Merke Dir, worüber wir sprechen. Nicht Worte, nicht Soldaten, sondern Menschen, die genau so sind wie Du.

 

Und wenn Du es so fest im Kopf hast, dass Du es nie vergessen kannst, dann suche danach, wie Du den Frieden am besten bewahren kannst. Arbeite hart daran, mit allen Mitteln des Denkens und der Liebe, die Du hast. Ruhe nicht, bis Du zu jedem Menschen, der jemals für das Glück der Menschen gestorben ist, sagen kannst: ‚Du bist nicht umsonst gestorben.’“

 

Cpl. Walter J. Slatoff
Reg. Hq. Co. 310 Inf.

 

(Titelfoto: US-Soldatenfriedhof Henri-Chapelle/Belgien, Oktober 2018)

 

Meine Arbeit können Sie hier unterstützen, vielen Dank!

Archiv