Feldpostbriefe: Brief eines deutschen Soldaten aus Russland, 11. August 1944 (Veröffentlicht am 21.06.2022)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Vorletzter Feldpostbrief des Lehrers Friedrich Geiger aus Russland an seine Frau Luise vom 11. August 1944
(Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Letzte Lebenszeichen II – Briefe aus dem Krieg, S. 54 ff.):

„Meine liebe Lies!

Ich sitze an meinem Loch im Graben und möchte Dir heute einige Zeilen schreiben, nachdem vorgestern ein Brief an Eva abging. Seit langer Zeit hat es gestern wieder zum ersten Mal geregnet. Nun ist die drückende Hitze zwar weg, dafür aber eine Mordsschmiere im Graben. Die Kleider und Stiefel sind voller Dreck. Aber das geniert mich nicht. Hauptsache ist, dass es nicht nasskalt ist, sondern immer noch warm. Man gewöhnt sich auch daran, die Stiefel 8 Tage lang Tag und Nacht nicht auszuziehen und schläft doch herrlich dabei. Die Front ist verhältnismäßig ruhig. Die Artillerie schickt natürlich täglich ihre Grüße herüber und hinüber. Wie waren wir froh, als einige Batterien kamen und sich gegenüber unserem Graben beim Ivan einschossen. Dies hat ziemlichen Respekt verschafft. Wenn ich durch den Graben gehe, muss ich an manchen Stellen, wo er nicht tief genug ist für meine Größe, immer gebückt laufen, dass einem das Kreuz wehtut. Denn streckt man den Kopf heraus, pfeift’s gleich um die Ohren.

(…)

Du fragst an, ob Vermisstsein schlimmer ist als der Tod. Ich sage nein. Den meisten Vermissten, soweit sie in Gefangenschaft geraten, geht es sicher nicht so schlimm, wie man es sich oft vorstellt. Sie müssen natürlich arbeiten, bekommen wahrscheinlich auch ein mageres Essen, aber immer noch im Rahmen des Erträglichen. Es gibt natürlich auch schlimmere Fälle, so z. B. als wir an der Memel lagen. Hier hatte der Russe einen kleinen Brückenkopf gebildet, der von uns hart bedrängt wurde. Mit Hilfe von Fallschirmjägern gelang es dort dem Russen, 22 Mann meiner früheren 2. Kompanie gefangen zu nehmen. Da sich der Gegner wieder vorübergehend zurückziehen musste, konnte er die Gefangenen nicht mitnehmen und schoss sie alle nieder. Ich habe die Armen nachher im Kornfeld liegen sehen. Aber das sind Ausnahmen, wie es die Wechselfälle des Kampfes mit sich bringen.

Zu dem Thema ‚Heimatschuss‘ möchte ich auch noch einmal Stellung nehmen. In der Schwere des Kampfes wünschen sich wohl die meisten eine leichtere Verwundung, die sie vorübergehend aus der ‚Scheiße‘ herausbringt. Aber man sollte solche Regungen stets unterdrücken. Sie entspringen einem niederen Egoismus, der die eigene Haut retten will, wenn auch die Kameraden weiterhin im Dreck liegen. Aus diesem Grunde ist der Wunsch nach einem Heimatschuss grundsätzlich verwerflich. Es ist auch eine Lästerung gegenüber dem Schöpfer, dem wir dankbar sein müssen, solange wir unsere gesunden Knochen haben. Ebenso denke ich denen gegenüber, die immer in der Heimat sein dürfen und nicht an die Front müssen. Gönne es ihnen doch! Die meisten an der Front würden auch gerne in der Heimat sein, wenn sie es machen könnten. Sie sind also auch nicht besser, sondern sind bloß neidisch. Zudem kann ja einer in der Regel gar nichts dazu beitragen, ob er in der Heimat bleibt oder ob er an die Front kommt. Doppelt verwerflich ist es natürlich, wenn er durch Schmiererei seine Stellung in der Heimat zu halten sucht, am allerverwerflichsten aber für den, der sich schmieren lässt.

Halten wir uns um Gottes Willen nicht an die schlechten Vorbilder, sondern vertrauen wir der göttlichen Fügung, wie sie es auch mit uns vorhat. So betrachte ich auch die allgemeine militärische Lage. So schwarz sie auch manchmal aussieht, so dürfen wir doch nicht verzagen. Irgendwie wird der Jammer doch einmal ein Ende nehmen. Und das Beste, um das wir den Herrgott bitten dürfen, ist die Kraft, all das mit Haltung zu ertragen, was auch kommen mag. Das ist mehr wert als aller andere irdische Kram. Mit dieser Haltung wird auch unsere ganze Lebensfreude und der Lebensmut nie versiegen. Dankbar begrüßt man morgens die Sonne, beschaut man die Landschaft. Mit innerem Glück gedenkt man der Lieben zu Hause, mit denen man sich innig verbunden fühlt und die einem das Leben erst lebenswert machen. Und ein solches Glück strahlt auch auf andere über. Oft schon ging ich durch den ganzen vorderen Graben unseres Abschnitts und da wirken aufmunternde warme Worte oft Wunder. Viele haben eben bisher im Leben nur arbeiten, essen und trinken gekannt und sind jetzt innerlich zu arm, um die Einsamkeit des Grabenlebens zu überbrücken. Wie oft schon haben naive Naturen gefragt: Wozu braucht man die Dichter, Denker, Künstler u.s.w., davon kann man doch nicht essen. Diese Leute haben vergessen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, dass eben die geistige Speise, die von den großen Männern ausgeht, uns schwere Lagen leichter überwinden hilft.

(…)

So wollen wir halt weiterhin leben, hoffen und unsere Pflicht tun.

Mit innigem Gruß auch an alle Lieben

Dein Friedrich“

 

Friedrich Geiger, geboren am 11. Mai 1902 in Lorch, fiel am 15. August 1944. Er wurde auf dem Friedhof in Šakiai/Litauen beerdigt.

 

(Titelfoto: Waldfriedhof Aachen, Mai 2022)

 

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