Menschlichkeit im Krieg: Offener Brief des ehemaligen jugendlichen sowjetischen Zwangsarbeiters Wladimir Prichodko an die Bürger von Stuttgart im Jahr 1973 (Veröffentlicht am 16.02.2024)

Genauso sicher wie der Krieg Tod und Leid gebärt, bewirkt er auch auf allen Seiten das Hervortreten von Menschen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben und die anderen in Not befindlichen Menschen selbst dann Hilfe und Beistand leisten, wenn diese zum „Feind“ erklärt wurden, dessen Unterstützung mit Gefahr für das eigene Leben verbunden ist.

In einem offenen Brief an die Bürger von Stuttgart berichtete der russische Bürger Wladimir Prichodko im Juni 1973 von den Erfahrungen, die er als Jugendlicher während seiner Kriegsgefangenschaft in der dortigen Region ab dem Jahr 1942 gemacht hat.  Er schreibt (Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 30.06.1973, S. 59):

„Es sind weit über dreißig Jahre seit jener Zeit vergangen, als die Nazis mich, damals einen fünfzehnjährigen Jungen, zusammen mit anderen jungen Mädchen und Jungen, in Eure wunderschöne Stadt mit ihren herrlichen Parkanlagen und Orangerien brachten. Aber die ganze Pracht der Stadt (vor den Bombardierungen im November 1942 und später) erfasse ich erst Jahrzehnte später. Damals war es mir nicht danach. Hatte ich doch, wie alle aus dem Osten Verschleppten, die Rechte eines Sklaven und dachte nur mehr an ein Stück Brot und auch daran, irgendetwas Nützliches für meine blutende Heimat zu tun. Es ist kaum zu glauben, daß ich die fürchterlichen Prügel der Lagerführer und der faschistischen Werksmeister ausgehalten habe: es ist kaum zu glauben, daß man sich fast drei Jahre nur von gekochten Steckrüben und Spinat und einem Stückchen mit Sägemehl vermischtem Brot ernähren und dabei am Leben bleiben konnte.

Vielleicht wäre der Tod unvermeidlich gewesen, wenn unter den Frauen, Arbeitern, Bauern und der Intelligenz nicht wahre Deutsche gewesen wären, die sich nicht von der moralischen Verkommenheit des Faschismus mit seiner menschenhassenden Theorie beeinflussen ließen, die keine Angst vor den Befehlen der faschistischen Administration hatten, die jegliche Kontakte mit den Russen verboten hatte.

Und wie viele hat es gute, kluge, gutherzige Deutsche gegeben! Lebt ihr noch, liebe Frauen von der Kugellagerfabrik ‚Norma‘? Von ganzem Herzen entbiete ich euch ein russisches Danke dafür, daß ihr Euch nicht gefürchtet habt, in ein Konzentrationslager zu geraten, und den von der Arbeit und Hunger entkräfteten russischen Kindern unauffällig ein Stückchen Brot mit Margarine oder Wurst in die Hand gesteckt habt. Ob ich, ein sowjetischer Mensch, die Gutherzigkeit der deutschen Frau vergessen kann? Niemals!

Lebt ihr noch, ihr Arbeiter der Fabrik ‚Norma‘, ihr, die dem russischen Sklaven von Euren letzten Lebensmittelmarken Brot, Wurst und Margarine gegeben habt? Wer wart ihr und lebt ihr noch, unbekannte deutsche Freunde, die ihr über den Zaun unseres Lagers in gebrochenem Russisch verfasste Flugblätter geworfen habt, in welchen ihr uns über den Verlauf der Kampfhandlungen an allen Fronten und über den politischen Bankrott des Hitler-Regimes unterrichteten und damit unseren Glauben an den Sieg über den Faschismus noch mehr gestärkt habt? Nur dank Euch haben wir zusammen mit anderen ausländischen Arbeitern die Werkzeugmaschinen und die elektrischen Installationen im Werk außer Betrieb setzen können, die zum Abtransport bereitgestellten Kugellager unbrauchbar machen und in die Bomben statt Sprengstoff Sand schütten können.

Dank Euch für alles, deutsche Freunde, Antifaschisten der Fabriken Robert Bosch, Witzemann, Eckhard, Daimler-Benz, Fortuna.

Dank Euch, geehrte Bürger von Bad Cannstatt, Feuerbach, Zuffenhausen, Stuttgart-Nord, für Eure Hilfe und Bemühungen, das Leben der sowjetischen Zivilverschleppten und Kriegsgefangenen zu erhalten.

Ich denke oft an die heldenmütige Tat eines Drehers des Werkes ‚Norma‘ mit dem Vornamen Kurt (an seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern). Er arbeitete mit uns zusammen im 2. Gebäudeblock, im ersten Stock. Kurt schlug meinem Kameraden Georgi Paschkow und mir vor, das ganze Werk für einige Tage außer Betrieb zu setzen. Uns verschlug es den Atem. Wie kann man so einen Koloß Stillegen? Es ist nicht das gleiche, wie wenn man eine Werkbank kaputtmacht oder einige hundert Kugellager in die Kanalisation wirft! Aber alles war viel einfacher. Kurt und uns ist es nach langer Mühe gelungen, das Kühlsystem des Werkes zu beschädigen. Zwei Tage danach standen im Werk die Maschinen still.

Und wie kann man sich nicht an die Gutherzigkeit der deutschen Bauern erinnern?

Als 1944 die US-Luftwaffe unser Lager ‚Rosenstein‘ und die Wohnviertel von Bad Cannstatt vernichtete, hat man uns, die Überlebenden, in das Dorf Neckartenzlingen umgesiedelt. Wir arbeiteten in einer Fabrik. Außer verfaulten Kartoffeln und einer Art Brühe aus Steckrüben haben wir nichts zu essen gehabt. Der Hunger setzte uns stark zu. Wir waren gezwungen, über den Zaun aus dem Lager zu fliehen und in den Dörfern um Brot zu bitten. Für denjenigen, der dabei von den Gendarmen erwischt wurde, gab es fürchterliche Prügel mit der Peitsche. Die Bauern versteckten uns vor den Gendarmen. Mit Taschen voller Brot, Kartoffeln, Äpfel kehrten wir in unser Lager zurück und teilten alles mit den Kameraden.

Großen Dank euch, Bauern von Neckartenzlingen, Walddorf, Gniebel (andere Namen sind mir entfallen). Hitler versuchte mit allen Mitteln, das deutsche Volk mit dem Gift des Nazismus zu vergiften. Aber das ist ihm nicht gelungen. Und kann man denn überhaupt ein Volk zum Narren halten, das der Menschheit große Philosophen, geniale Dichter, Wissenschaftler und Komponisten gegeben hat? Niemals!

(…)

Geehrte Stuttgarter! Kämpft für den Frieden und die Freundschaft, damit unsere Kinder und Enkel nie mehr den Schrecken der zerstörenden Kriege erleben.

Wladimir Prichodko
Gebiet Woroschilowgrad
Bezirk Kremennoe
Siedlung Krasnoretsekensk

Übersetzt: A. Karapetian (Redaktion der StZ)“

 

Der Schlusssatz ist von unveränderter Aktualität. Jeder Mensch hat jederzeit die Wahl, seinem Herzen zu folgen.

 

(Titelfoto: Gedenksteine auf dem Russischen Kriegsgräberfriedhof
in Simmerath-Rurberg, Juli 2023)

 

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