Episoden des Krieges: Der geschundene Wald (Veröffentlicht am 30.03.2022, aktualisiert am 08.06.2022)

Wer sich heute im Hürtgenwald bewegt, sieht nur noch Schatten des Waldes, der im Herbst und Winter 1944/45 den Rahmen der schweren Kämpfe bildete. Es sind die aufgeforsteten Reste dessen, was der Krieg und die nach seinem Ende wiederholt aufgetretenen Waldbrände von dem alten Baumbestand, der den Hürtgenwald vor Beginn der Kämpfe weithin ausmachte, noch übrig gelassen hat.

 

I. Der historische Hürtgenwald

Ein guter Eindruck des historischen Hürtgenwaldes lässt sich den Schilderungen von Baptist Palm entnehmen, Teilnehmer der dortigen Kämpfe und später Bürgermeister von Vossenack. In seinem Buch „Hürtgenwald – Das Verdun des Zweiten Weltkriegs“ von 1953 beschreibt er auch den Wald und seine Veränderungen durch die Kriegseinwirkungen in sehr anschaulicher Art und Weise. Die Situation vor dem Krieg schildert er mit folgenden Worten (a.a.O., S. 9):

„Am Nordwestrande der Eifel, dort, wo man von Bergeshöhen in die Niederungen des Dürener Landes hinunterblickt, und im Westen über die Grenze nach Belgien hineinschaut, liegt der Hürtgenwald in seiner Erhabenheit, in seiner Ruhe. Der Hürtgenwald, der seinen eigentlichen Namen, in den deutschen und amerikanischen Wehrmachtsberichten erhalten hat, ist in dem letzten Jahrzehnt weit über die Grenzen unserer Eifelheimat bekannt geworden. Wer diesen Wald in den Jahren 1936 und 1937 gekannt hat, wer in den tiefen, geheimnisvollen Tannen- und Buchenwäldern Ausspannung und Ruhe suchte, der weiß es, welch schöne Erholungsstätten diese Waldungen waren. Ja, in diesen Wäldern, wo in den schönen Tälern reizende Flüsschen der Landschaft ihr eigenartiges Gepräge gaben, wo in der Dämmerung noch der Hirsch an einsamen Bestandsrändern, in kühlen Bachgründen seine Äsung suchte, da konnte man die Schönheit des deutschen Waldes und seine stillen und heimlichen Bewohner, das Wild, schätzen und lieben lernen. An den Randgebieten dieses Waldes lagen schmucke Eifeldörfer, deren Bewohner neben etwas Landwirtschaft durch den Wald Arbeit und Brot fanden. Glücklich und zufrieden lebten diese Menschen in diesen Dörfern und für sie war dieser Wald, der manchmal bis an die Hausgärten heranreichte, ein Begriff. Ja, ein Stück Heimat war er. Wenn Sonntags nach der Woche harter und schwerer Arbeit die Menschen in den Wäldern Erholung suchten, so sah man in ihren Gesichtern Glück und Zufriedenheit und in der Ruhe einen Sinn des Lebens. Sollte es so bleiben?“

 

Die Antwort ist bekannt.

 

II. Der Bau des Westwalls

Die ersten tiefgreifenden Störungen der beschriebenen Naturidylle bewirkte der Bau des Westwalls, der den Hürtgenwald durchzog und dort zahlreiche Bauten hinterließ. Herr Palm beschreibt dies folgendermaßen (a.a.O., S. 9 f.):

„Tag und Nacht rollten über die Straßen Lastzüge schwer beladen mit Kiess, Zement und Eisen. Unendliche Mengen Baumaterialien wurden herangeschafft. Hinter großen Bretterverschlägen arbeitete man Tag und Nacht, wochen- und monatelang. Vorbei war die Stille, die Ruhe in diesen Wäldern. Überall wohin man nur ging, warnten große Schilder vor dem Betreten des Geländes: ‚Sicherungsbereich des Westwalles, verboten, verboten‘. Die ganzen Wälder glichen einer großen Fabrik. Das monotone Mahlen der Betonmaschinen, das Hämmern der Pressluftbohrer, das heulende Motorengeräusch der schwer beladenen Fernlastzüge, das Rufen und Schreien auf den Baustellen, in all dem Arbeitslärm verblich die einsam feierliche Stille des Waldes. Bunker und Stellungen, für damalige Begriffe uneinnehmbar, wuchsen aus der Erde. Höckerlinien (Panzersperren) zogen sich kilometerweit durch das Land, durch die Gärten und Wiesen der Dörfer. Drahtverhaue versperrten in den Wäldern dem Wanderer den Weg. (…) Waldstreifen wurden vor den Schießluken der Bunker gefällt, um so Schussfelder für diese Bauwerke einzurichten. Der schöne Wald blutete aus tausend Wunden. Überall an den Berghängen, auf den Höhen und an den Straßen ragten graue Betonklötze wie Gespenster in die Landschaft hinein.“

 

III. Die Kämpfe im Hürtgenwald

Die ersten Kampfhandlungen erreichen den Hürtgenwald im September 1944. Bemerkenswert in den Schilderungen der Kampfteilnehmer ist, dass die deutschen Soldaten den Wald offenbar eher als Verbündeten betrachteten, während die US-Soldaten ihn – vielleicht auch erst im Nachhinein aufgrund ihrer Erlebnisse dort – vielfach als feindselig beschrieben. Ein Beispiel liefern die Eindrücke des mit der 28. US-Infanteriedivision im Hürtgenwald eingesetzten M. Bedford Davis, der seine Ankunft vor Ort wie folgt beschreibt (Davis, Frozen Rainbows (2003), S. 193, Übersetzung aus der englischen Sprache):

“Am 26. Oktober 1944 marschierten die frisch ausgeruhten GIs der 28. US-Infanteriedivision langsam in einen dunklen Wald. Es war ein Wald wie aus einem deutschen Märchen – dicht, abweisend und feindlich. Er schien von dunklen Geheimnissen, dem Bösen und den Gespenstern der Toten erfüllt zu sein. Als ob die Dunkelheit nicht schon genug wäre, war es auch noch neblig und feucht. Man konnte sich vorstellen, dass in seinen Schatten eine böse Hexe hauste, die nur darauf wartete, eine unglückliche Seele zu entführen.“

 

Die von den Kämpfen betroffenen Waldstücke wurden völlig verwüstet, insbesondere durch die beiderseits massiv eingesetzte Artillerie. Da der dichte Wald eine genaue Zielidentifikation häufig nicht ermöglichte, wurde insbesondere von US-Seite wahllos in den Wald hineingeschossen. Die dabei verwendeten Granaten verfügten im Regelfall über Aufschlagzünder, welche bei Kontakt mit einem festen Objekt explodieren. Dieser explosionsauslösende Kontakt findet beim Schuss in einen Wald im Regelfall mit den Baumwipfeln statt, so dass die Artilleriegranaten nicht erst auf dem Boden, sondern bereits in Höhe der Baumwipfel detonierten. Diese sog. „Baumkrepierer“ bewirkten nicht nur eine großflächigere Verteilung der eigentlichen Granatsplitter, sondern produzierten durch die Detonation auf dem Baum zusätzliche, für die Soldaten am Boden ebenso gefährliche Holzsplitter. Zudem sprengten die Granaten die Baumwipfel und das angrenzende Astwerk ab, das zu Boden fiel und den schon von Natur aus sehr dichten Wald zusätzlich verdichtete und so nahezu undurchdringlich machte. In diesem Dickicht wurden zusätzlich Minen und Sprengfallen installiert.

Man kann sich vorstellen, welche Auswirkungen mehrmonatige Kämpfe nach diesem Vorbild auf den Wald haben. Weithin bekannt geworden sind die Bilder aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, auf denen von dem ehemals stolzen Hürtgenwald nicht viel mehr übrig ist als verkohlte Stümpfe.

Beteiligte deutsche Soldaten haben die fatalen Auswirkungen auf den Wald mitunter schon während der Kämpfe niedergeschrieben. Ein Beispiel ist Horst Schirmer, der im Herbst und Winter 1944/45 an der Eifelfront eingesetzt war und seine Eindrücke in seinem Buch „Hürtgenwald – Gedichte und Worte um ein Fronterleben“ wie folgt beschrieb (a.a.O., S. 26):

„Lange Zeit habe ich bei Wind und Wetter, bei Kälte und Sturm in einem Lehmloch an einem Waldrand gelegen, und an fast allen Tagen – vom Morgengrauen  an bis zur abendlichen Dämmerung – war ein kleines Rotkelchen mein einziger Freund und Gefährte. Seine kleinen, dunklen Augen erschienen mir so trostlos und so voller Trauer über den zerschossenen, todwunden Wald. Und ich dachte: das Leid eines Menschen – mein Leid – kann auch nicht größer sein.“

 

Passend scheinen auch die Eindrücke von Bernhard Kramer, der allerdings nicht im Hürtgenwald eingesetzt war, sondern weiter südlich in der Schneifel, wo im Herbst 1944 ähnlich erbitterte Kämpfe unter vergleichbaren Bedingungen, insbesondere in dichtem Eifelwald, stattfanden. Er schreibt über den dortigen Wald (Kramer, Der Krieg in der Schneifel – September 1944, S. 754 f.):

„Schattenhaft greifen die Ruinen gemordeter Bäume in den Nachthimmel. Ein Baum wächst. Der Mensch wird ihn einmal fällen. Der Baum stirbt, aber noch Jahre können wir sein Leben hören, wenn die Bohlen, über die das laute Treiben des Tages weggegangen, in heißen Nächten krochen und knarren, und wenn die uralte Truhe, die das weiße Linnen von Generationen birgt, ihre Geschichten in die Stille sagt. Ein Baum wird gefällt und stirbt, das ist in der Ordnung. Genauso, wie es in der Ordnung ist, dass der Mensch stirbt. Aber diese Bäume sind gemordet‚ wie ein Mensch gemordet sein kann und das ist gegen die Ordnung. Und so stehen sie da, weisen mit dem zerschossenen Rumpf ihres Stammes gen Himmel wie eine stumme Klage, oder sie breiten beschwörend die verstümmelten und toten Arme ihrer Äste.“

 

IV. Die unmittelbare Nachkriegszeit

In diese verwüstete und trostlose Umgebung, die einmal ihre Heimat gewesen war, kehrten nach Kriegsende die geflüchteten Einwohner der Dörfer des Hürtgenwaldes zurück. Baptist Palm schreibt hierzu (a.a.O., S. 106):

„Verflucht war die Erde des Hürtgenwaldes. Das Gespenst des Todes, der Not und des Elends ritt in den zerschossenen und verkohlten Wäldern, in den von Bomben und Granaten umgepflügten Feldern einher. Überall forderte es seinen Tribut. Vernichtet war das Idyll der heimatlichen Wälder und nach Jahrzehnten werden die Spuren des Krieges noch sichtbar sein. Selbst die Vogelwelt war ausgestorben. Nirgendwo hörte man mehr die unzähligen Singvögel, die früher der Wald beherbergte und ihre Liedchen in den heimlichsten und verborgensten Schlupfwinkeln des Waldes trillerten. Überall war grausige, unheimliche Stille. Amerikanische Leichenbergungskommandos holten die gefallenen Amerikaner von den Schlachtfeldern. Die Deutschen blieben liegen, unbeerdigt an ihren Kampfplätzen, in den Stellungen, in denen sie das Schicksal ereilt hatte.“

 

Dennoch war damit noch nicht das letzte Kapitel des Krieges und seiner Auswirkungen auf den Hürtgenwald geschrieben. Als habe der Krieg dieses ehemalige Naturidyll so irreparabel und nachhaltig beschädigt, dass ein vollständiger Neuanfang den einzigen Ausweg darstellt, suchten ab Herbst 1945 und bis 1948 wiederholt verheerende Waldbrände die traurigen Reste des Hürtgenwaldes heim und zerstörten so alles, was sich noch in ihnen befand. Herr Palm schreibt hierzu (a.a.O., S. 108):

„Der Spätsommer 1945 kam. Überall in den Wäldern nicht zu ertragender Verwesungsgeruch. Trotzdem wurde von höherer Stelle nichts unternommen, die Soldaten zu beerdigen. Dann kam das Schreckliche für die zahllosen Hinterbliebenen, die ihre Toten suchten, die hier unbeerdigt lagen: die Wälder brannten! Ja, irgendein Umstand, vielleicht waren es die Berge von Munition, die herumlagen, vielleicht war es Phosphor, welches durch die Hitze entzündet wurde, hatten diesen Brand entfacht. Hunderte Hektar Wald zwischen Vossenack und Hürtgen brannten. Berge von Munition aller Art gingen in die Luft und entfachten das Feuer immer wieder von neuem. Die vielen Hunderte von Leichen (niemand weiß die Zahl) verbrannten und verkohlten. Schwarze Knochenreste lagen wild zerstreut auf dem schwarzen, verbrannten Waldboden. Nur die schwarzen, verkohlten Baumstumpen ragten gen Himmel und klagten die Welt an.“

 

In das einstmals idyllische Waldgebiet, das Feindschaft und Krieg in eine trostlose Einöde verwandelt hatten, kehrte auch Julius Erasmus zurück. Gemeinsam mit seinen Helfern machte er sich daran, die Toten zu bergen, zu identifizieren und sie zu bestatten. Der hohe Anteil der Unbekannten auf den Soldatenfriedhöfen in Vossenack und Hürtgen zeigt auch, dass der geschundene Hürtgenwald nicht alle in ihm zu Tode gekommenen Soldaten wieder vollständig preisgegeben hat.

 

 

Im heutigen Hürtgenwald finden sich an unterschiedlichen Orten Bäume mit eher ungewöhnlichem Wuchs. Ein Beispiel ist der im obigen Foto gezeigte Baum(rest), in dem man – je nach Perspektive und Phantasie – auch eine Menschengestalt erblicken kann, die mit erhobenen Armen wie anklagend abgebrochene Äste zum Himmel reckt.

 

(Titelfoto: Baum im Hürtgenwald, Bereich Peterberg, Juni 2021)

 

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