Feldpostbriefe: Briefe des deutschen Soldaten Harry Mielert aus Russland, November 1942 bis Dezember 1943 (Veröffentlicht am 09.12.2024, zuletzt ergänzt am 19.11.2025)

Quelle für nachfolgende Briefe: Bähr, Die Stimme des Menschen – Briefe und Aufzeichnungen aus der ganzen Welt 1939 – 1945 (1961), S. 367 ff.:

 

Lemberg, 14. November 1942

In der Bahn las ich etwas Gogol »Abends auf dem Vorwerke«. Solche Geschichten und die von Maxim Gorki führen eigentlich näher an den russischen Menschen heran als Dostojewskij, der doch viel mehr ein außerordentlicher, einsamer Russe war, während Gogol höchstens ein einsamer Russe war. Besonders ergriffen hat mich die Erzählung »Schreckliche Rache«, die bei Kiew spielt. Die Quintessenz scheint die zu sein, dass es eine Strafe für einen Menschen ist, dazu verdammt zu sein, anderen Böses zu tun.

 

Charkow, 17. November 1942

Als ich heute früh meine Dienststelle aufsuchte, kam ich zum »Roten Platz« wo ein monumentales Lenin-Denkmal steht; davor eine riesige gepflasterte Fläche, auf der wohl die Massenaufmärsche der Proletarier stattfinden mochten; an der einen Seite dann ein riesiger Mammutkasten mit den Parteibehörden, auch im Aufbau etwas stark kubistisch gemeint. Das Eigenartige und vielleicht typisch Russische ist nun, dass das Erdgeschoß des Hauses ein einziges langgestrecktes Proletarier-Café ist. Mich erinnert das an Wallfahrtsgegenden, wo rund um die wunderschöne Barockkirche herum, ja möglichst davor, die Jahrmarktsbuden aufgeschlagen sind, wo es unter geweihten Kerzen und Rosenkränzen auch Pfefferkuchen, Witzpostkarten und Schmuck gibt; auch kleine Cafés und Eisbuden kann man da sehen. Der Russe hat im Grunde auch diese Seele, und der Bolschewismus ist typisch russisch; die ins Unendliche schweifende russische Frömmigkeit ist nach Wegnahme der Transzendenz zu einer ins Endlose des Irdischen (Internationalismus) schweifenden Weltanschauung geworden.

 

27. November 1942 [An der Front]

Das alte Erlebnis jedes ernsthafteren Soldaten hier draußen wurde wieder in mir wach: wie ganz allein auf eine höhere göttliche Macht der Mann hier unmittelbar an der Front gestellt ist. Es ist hier kein Verlass mehr auf eigene Kraft oder die Kraft der Waffen. Ich habe es diese Nacht wieder erfahren müssen. Plötzlich fehlt ein Mann in unserer Kampfgemeinschaft. Niemand in der Heimat wird später dem Frontsoldaten einen »Lohn« für sein Opfer geben können. Diese riesige Masse an Furcht, Grauen und anderen unnennbaren Gefühlen und das Gegengewicht an Tapferkeit und Überwindung, das die Männer hier täglich und stündlich aufbringen müssen, kann ihnen niemand vergelten.

Manchmal erzählt ein Gefangener, dass die Russen auch ziemlich dürftig leben in ihren Löchern, genau wie wir, und dass die guten Sachen immer hinter der Front bleiben. Da haben wir es wahrscheinlich noch etwas besser. Aber der Russe ist auch wieder natürlicher und lebt viel emsiger und gewohnter in der Erde als wir… Jeder hat seine Stärken und Schwächen, und für den Soldaten beider Seiten ist der Krieg weniger ein Hass als eine Auseinandersetzung der obersten Regierenden.

 

 16. Februar 1943

Der Russe brach mit den furchtbaren Schneestürmen in unsere Stellungen ein. Er war nicht mehr hinauszuwerfen. Freilich ließ er viele Tote, aber wir haben auch wieder eine Reihe Gefallener und Verwundeter. Bei uns ist es besonders schlimm, wir wissen nicht, wie wir unsere armen Kameraden transportieren sollen. Es sind schreckliche Bilder zu sehen. Wir haben nur noch wenige Pferde, die ein paar Schlitten mit dem Notwendigsten an Munition, Waffen und Verpflegung ziehen. Alle motorisierten Fahrzeuge, Geschütze, riesige Mengen von Munition, die für den Stellungskrieg aufgestapelt waren, mussten gesprengt und verbrannt werden. Auch unsere Wäsche, Mäntel, Privatsachen außer dem Wenigen, das jeder in seinem Brotbeutel mitführen kann, sind dahin. Hinter uns operieren Panzer, neben uns sind die Russen schon weiter vorgedrungen. Wir stecken wieder richtig in der Klemme. Haben uns auf den Ort B. zurückgezogen, den wir nun in eisigen Stürmen gegen die von allen Seiten zäh anstürmenden Russen verteidigen. Es sind ganz frische russische Truppen.

 

1. März 1943

Irgendein großes, mir unfassbares Wunder hat mich gestern gerettet. Etwa 150 Meter vor oder besser hinter unseren Stellungen tauchten plötzlich etwa 800 Mongolen auf, mit zahllosen schweren automatischen Waffen ausgerüstet. Sie waren an einer schwachen Stelle lautlos durch die Hauptkampflinie gekommen, haben die dort stehenden Posten überwältigt und sich von hinten unseren Stellungen genähert. Im Ganzen haben zwei russische Regimenter uns im Abschnitt einer Kompanie angegriffen. Wie wir damit fertiggeworden sind, weiß ich nicht. 600 Tote liegen vor unseren Stellungen, in den Gräben, den Löchern. Wir verloren 30 Mann, davon etwa 13 tot. Ein Offizier fiel. Ich übernahm die führerlose Kompanie, machte hinter den fliehenden Russen her einen Gegenstoß und besetzte noch ein Dorf, in dem ich bis nach Mitternacht blieb. Dann wurden wir abgelöst. Was ich gestern gesehen habe, ist das Grässlichste, was mir bisher begegnet ist.

 

23. März 1943

Über die kahle Höhe jagen ein paar feurige Garben des russischen Maschinengewehrs, das da drüben an dem Muldenrand eingebaut ist. Was mag der Iwan denken, der da am Gewehr sitzt und schießt. Ist er mit seinen Gedanken wirklich bei der Sache, oder denkt er auch an andere Dinge, an den Sommer in der friedlichen Heimat, wo die Steppengräser silbern blühen und die großen Sonnenblumen im Garten leuchten? Wir denken ja alle mehr an den Frieden oder besser an das Friedliche, alle mit der gleichen Sehnsucht. Möchte es bald sein!

 

29. März 1943

Bei dem letzten großen Massenangriff auf unsere Stellung am 28. Februar wurde ein Dorf vor unserer Hauptkampflinie völlig zerstört und sämtliche Keller, in denen sich die Russen hartnäckig verteidigten, gesprengt. Es herrschten damals große Schneestürme, die innerhalb kurzer Zeit viele der Gefallenen verwehten, so dass sie erst jetzt in den Tagen, wo der Schnee durch Tauwetter in sich zusammensackt, teilweise zum Vorschein kamen. In dem besagten Dorf sitzen nun unsere Gefechtsvorposten. Sie durchsuchen dort aus Neugierde alle Ruinen und graben auch in allen Häusern nach, weil die Russen überall noch etwas vergraben. Vor dem Dorf kam durch den tauenden Schnee ein Kellereingang zum Vorschein, und ein Landser, neugierig, was in dem bisher noch nicht bemerkten Keller sein möge, macht den Eingang frei, steigt ein und findet vier tote Russen darin. Indem er sie berührt, um zwei etwas an die Seite zu rücken, weil sie auf einer weiteren Falltür liegen, erheben sich die zwei Toten und sind lebendig. Der Landser erschrickt und will schießen, aber die beiden Toten erheben mühsam und stöhnend die Hände. Sie werden ans Tageslicht gebracht, wo sie sofort wie betrunken taumeln und fallen. Auf einem Schlitten werden sie zu unserem Gefechtsstand gebracht. Wir verhören sie, nachdem wir sie etwas gespeist haben, und es ergibt sich folgendes: Nach dem Angriff verkrochen sich diese vier in den Keller. Deutsche Soldaten warfen Handgranaten hinein, seitdem wagten sie nicht, sich sehen zu lassen. Sie hatten Brot für zwei Tage mit sich, zwei Mann waren durch die Handgranaten getötet, diese beiden verwundet. Von den Kartoffeln, die da zentnerweise lagen, haben sie sich ernährt. Sie haben es auf diese Weise vier Wochen ausgehalten, zusammen mit zwei Leichen, ihrem eigenen Auswurf, haben sich die Füße bis zum dritten Grad erfroren und wagten doch nicht herauszukommen. Es war ein Mongole und ein Sibirier. Wir haben sie verbinden und weiter rückwärts schaffen lassen… Kann das ein Mensch ertragen?

 

Quelle für nachfolgende Briefe: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939 – 1945 (1952), S. 293 ff.:

 

Im Felde, 17. April 1943

Heute herrscht ein wüster Sturmwind, dabei ganz klare Sonne, nur hin und wieder vorübergetriebene Wolkenfetzen. Das Dorf, in dem unser Tross liegt, brannte in wenigen Minuten ab, weil ein Funke einer offenen Feuerstelle in ein Strohdach flog. Ach, weißt Du, Liebe, als ich vor dem letzten Haus stand und in das Hochauflodernde schaute, war mir sehr traurig ums Herz. So geht menschliche Habe dahin, alles Vergängliche flackert einen Augenblick und dann verfällt es zu Asche. Was bleibt? Gelebtes Leben, Liebe zwischen Menschen, Süße des Herzens, das nehmen wir mit ins Unvergängliche, wo wir endlich einmal nur sein werden. Ob das Schöne mitgeht? Wer weiß es! Aber die Liebe zum Schönen, die bleibt, denn alles Ewige muss das reinste Schöne sein.

Wie mögen jetzt die Wälder in der Heimat so voll frühem Duft sein und unter der Sonne blühen wie Blumen. Der Eingang im Tal, Ausflucht nach Süden – ins Paradies, ins Ersehnte! – Es kommt noch, Liebste! Es wird eine wundervolle tiefsinnige Liebe sein, die wir dort erleben werden. Ich ahne schon, wie wir in spätem Zeiten dort hinab reisen, um die Tage der Wonne und Liebe zu genießen, die jetzt noch durch Trauer und Tränen verschleiert sind.

Der Abend war wunderbar; während über dem ganzen Tag das Brausen der starken Sturmwinde lag, wurde es abends ganz still. Die Sonne versank glühend hinter den kahlen Höhen, dann war noch lange der Himmel ganz rot bis hinauf zu einer Wolke, die als Rest des vorüberjagenden Wildheeres plötzlich stehen geblieben war und sich nun anglühen ließ, während sie oben, wo der Himmel selbst schon gelb und grün und beinahe tiefblau wurde, schwarz-violette Schatten trug. Da hatte sie auch ganz zerfetzte Ränder. Uber der weiten Hochebene schwieg nun alles, und während des Schweigens kam – selbst unsichtbar in ihrem Herannahen – die Nacht herab und verhüllte alles Einzelne. Man reißt unwillkürlich beim scheidenden Licht noch einmal die Augen auf, dann wird es in einem selbst still, und die Augen senken sich auch, um den mühsamen Weg zu finden. Wird einmal in diese Finsternis plötzlich eine unwiderstehliche ewige Helle hereinbrechen? Und dann das Ende? – Nur die Liebenden werden unendlich bestehen. Alle anderen, die Arbeitenden, Streitenden, Hassenden werden vergehen, nur die Liebe bleibt.

 

26. April 1943

Wir hatten heute wieder einen sonnigen Tag und hatten es doch auch wieder schwer. Nachts fielen mehrere Kameraden. Bei Tag kam ein neuer Bunkerbrand hinzu, wobei schwere Verletzungen vorfielen. Erinnerst Du Dich noch an den Feldwebel, von dem ich im vorigen Winter erzählte? Er legte immer viel Wert auf sein männlich schönes Gesicht. Er wurde so stark verbrannt, dass sein Kopf mehr einem Totenkopf ähnelte als dem eines Lebendigen. Auch ein Offizier wurde ebenso schwer verbrannt. Diese Verletzungen sehen eigentlich noch abschreckender aus als manche Verwundung. Diese Männer sind verheiratet. Wie werden sich die Frauen dazu stellen? – Und wird nun, da die Maske so verzerrt ist, das Herz seine alte Art behalten? Dies sind wohl die schwersten Fälle, die der Krieg bewirken kann.

 

Quelle für nachfolgende Briefe: Bähr, Stimme des Menschen (a.a.O.), S. 371 ff.:

 

26. April 1943

Heute habe ich die ersten Veilchen gefunden, und zwar in einem öden Heidegebiet. Es ist ein seltsames Erlebnis fürs Auge, in der gewöhnlichen gelbbraunen und grauen Landschaftsöde, in die sich höchstens etwas Grün mischt, nun ganz plötzlich diese völlige andere Farbe zu sehen, diese Blüte, wie eine kleine, lieblich-anmutige Offenbarung: »Da müssen Worte wie Blumen entstehen…« Kann man das einzigartige dichterische Wort besser kennzeichnen als so? Ich habe das Veilchen nicht gepflückt. In dem Augenblick, wo ich es erblickte, überkam mich doch eine heimliche Ehrfurcht davor, wie vor etwas Heiligem.

 

8. Juli 1943

Es ist eine seltsame Situation. Um uns im Halbkreis herrschen wütende Artilleriekämpfe, nur bei uns ist es ruhig. Wir sind so weit vorgestoßen, dass alles in unserem Raum zerstört, aber alles Überlebende bei Freund und Feind auch völlig erschöpft ist. Munition und Waffen haben gelitten, man muss mit Wenigem haushalten.

Unser Bataillon hat seit der Zeit, wo ich ihm angehöre, am schwersten in der Division bluten müssen. Bald sind nur noch ganz wenige Männer von denen da, die am Anfang da waren. Auch die Russen haben tapfer gekämpft. Vor allem die Kommissare. Einzelne standen hochaufgerichtet auf dem Grabenrand und leiteten die Bewegungen zum Gegenangriff, der uns viel Opfer gekostet hat. Das sind auch zum Äußersten entschlossene Männer, vor denen man Achtung haben muss. Sie fallen in solchen Kämpfen in großer Zahl, aber sie sind das Rückgrat der russischen Armee. Es wäre schlecht, das nicht anzuerkennen… Ich war nicht leichtsinnig, und mein letzter Gedanke vor jedem neuen Entschluss warst immer Du. Diese Tage sind mir ein neues, festes, eisernes Band unserer Treue geworden. Treue ist ja für uns nicht nur, dass wir nicht zu einem anderen gehen, sondern das innige Bewusstsein des im Namen Gottes unverbrüchlichen Bandes unserer Liebe. Mir wird immer mehr klar, dass wir auch in unseren Gedanken noch mehr über das Nur-Moralische zum Ethischen kommen müssen. Nur im Ethischen liegt ein tiefer religiöser Grund, auf dem wir etwas Ewiges in unseren Herzen aufbauen können. Es ist klar, dass wir unser Sein nicht nur für die kurze Spanne unserer Lebenszeit begründen, sondern über den Tod hinaus auf ein Ewiges.

 

Quelle für nachfolgenden Brief: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe (a.a.O.), S. 295 f.:

 

20. August 1943

Ich sitze an einem Kiefernhang und schaue dem Russen in die Stellung, ohne dass er mich entdecken kann. Es ist heute ein bezogener Himmel, und wieder sehr windig. Es rauscht weithin in den Wipfeln der Kiefern, angenehm und heimatlich. Nur das Herz weiß, dass hier keine Heimat ist und nie sein kann, solange Du nicht bei mir bist. Es wäre wohl möglich, dass Du bei mir sein könntest, wenn der Krieg nicht wäre.

Dann wären wir auf einer Ferienreise in Italien oder im Balkan. So könnte es auch in den Pinien bei Paestum rauschen oder in den Eichen von Olympia. Athen würde uns gewiss sehr enttäuschen, wenigstens mit seiner Umgebung, die, wie ich aus einer Zeitung sah, furchtbar modern und westlich infiziert ist. Wenn es die orientalische Welt wäre, die üppig darum wucherte und in ihrem Innern dann das klare antike Heiligtum zu finden wäre, versteckt und vergessen, wie geschaffen für uns Einsame und Liebende und Suchende – aber es ist jetzt die nachgeahmte Pseudo-Zivilisation da in der Stadt, die einem das Schöne nimmt. Vielleicht aber durch allen Fremdenverkehr hindurch würde es uns doch möglich sein, die Tempel in unser verehrendes Gemüt aufzunehmen und unser Auge an der wirklichen, durch kein Bild verkleinerten oder verfälschten Gestalt zu messen. Man müsste die Koren des Erechtheions sehen, wie sie dastehen in der heiteren, glühenden Sonne, das Gebälk tragend, und man könnte mit den Händen die lebendigen Säulen berühren, die dorischen und die attischen … Vielleicht würden wir dann auch einen Tag in der eleusinischen Ebene verbringen. Ich las von ihr, dass sie licht und grün sei, wogende Kornfelder und rauschende Olivenhaine habe, und daraus springt ein felsiger Hügel vor zum Meer, in leichtem Bogen eine Art Naturbühne bildend. Das war der Schauplatz der Mysterienspiele. Vielleicht war dies doch eine tiefe Urquelle des lebendigen Griechentums, eine elementare schöpferische Macht, die sich im Licht des Polistages zu Gestalten und Bildungen, Figuren und Tempeln verwandelte … Es wäre wunderbar, wenn wir uns in diesen Zeiten, in denen alles nur innerlich sein kann, ein »inneres Griechenland« schaffen würden.

 

Quelle für nachfolgende Briefe: Bähr, Stimme des Menschen (a.a.O.), S. 372 ff.:

 

24. August 1943

Ich kann an nichts denken, was außer unserer Liebe ist. Alles begegnet schon nach kurzem Weg dem reißenden Strom meiner Sehnsucht nach Dir. Es ist furchtbar schwer, das Blut und die Seele den Gesetzen des Schicksals zu unterwerfen und sich binden zu lassen wie einen Sklaven, wo es doch so gewiss ist, dass Freiheit, Schönheit, Sinn und Leben nur in der Liebe sein kann! Diesem elenden »Muss« immer wieder zu folgen, kann auf die Dauer nicht zu ertragen sein. Und doch ist es ja die große Leistung aller Liebenden, die Trennung durchzuhalten und aus ihr die schöpferische Kraft sich bilden zu lassen, die uns wieder »auf morgenroten Flügeln« zueinander zwingt. So lange müssen wir warten, immer den Mächten anheimgegeben und unterworfen. Feiern und ehren wollen wir die hohe Macht der Liebe, die uns immer wieder aus diesem Jammertal einer Knechtschaft die Freiheit bringt…

 

20. September 1943

P. ist ein größerer Ort. Der Russe schießt mit Artillerie herein, beinahe alle Häuser brennen, dazwischen detonieren große Munitionslager oder durch Pioniere gesprengte Gebäude und Anlagen. Alles dröhnt, flammt, zittert, Vieh schreit, Soldaten durchsuchen alle Gebäude, Fässer mit Rotwein werden auf kleinen Panjefahrzeugen abgefahren, hier und da wird getrunken und gesungen, dazwischen wieder die Explosionen und die neu aufrauschenden Brände. Unsere Männer liegen in der Stellung, es schießt etwas. Aber das Seltsame ist das bunte Durcheinander hinter der ernsten ruhigen Kampflinie… Wieder wurde ich unterbrochen. Nun brennt wieder alles um uns her. Alle Bande sind zerrissen. Wo ist der Mensch! Der Zorn brüllt durch alle Fugen der Welt. Es ist kein Ende, es ist die Welt selbst in ihrem Sein. Jedes »Jüngste Gericht« ist die Welt selbst.

 

Quelle für nachfolgende Briefe: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe (a.a.O.), S. 297 ff.:

 

Brückenkopf Gomel, 1. Oktober 1943

Das Schlimmste war vor vier Tagen, als ich einen Ort mit vier Männern gegen fünf anrollende Panzer mit aufgesessener russischer Infanterie verteidigen musste und den Befehl hatte, diese Stelle nicht zu verlassen bis auf ein verabredetes Zeichen. Es war grausam. Die Truppe hatte drei Kilometer weiter rückwärts eine neue Stellung bezogen. Ich lag mit den paar Männern auf verlorenem Posten; rechts und links ging der Russe bereits vor. Aus nächster Nähe bekämpften wir die Infanterie auf den Kampfwagen, aber die dröhnenden Stahlkolosse brausten gegen uns heran, rollten durch, schossen aus allen Rohren und teilten sich dann, um uns in die Zange zu nehmen.

In der darauffolgenden Nacht lösten wir uns wieder vom Feind, schossen im Schutz der Dunkelheit und im Wald sieben Panzer mit Panzerkanonen ab, zum T eil aus 20 Metern Entfernung, und hatten am nächsten Tag etwas Luft. Aber der Russe hatte uns schon von beiden Seiten umgangen. Wir brachen an einer Stelle durch, um den Fluss zu erreichen, hinter dem Gomel liegt, aber der Russe hatte schon vor uns alle Brücken zerstört. Jetzt liegen wir diesseits des Flusses, bilden einen Brückenkopf und bauen eine neue Brücke. Die neugebackenen Leutnants dieses Sommers sind schon beinahe alle wieder ausgefallen. Ich gehöre zu den ganz wenigen Offizieren unserer Division, die noch seit Anfang dabei sind.

 

1. Dezember 1943

Niemand als der Beteiligte kann verstehen, was hier vorgeht. Dadurch, mein Liebes, will ich Dich nicht ausschließen von einem »Erleben«, es ist kein Erleben, es ist nur eine furchtbare Tatsache, die man aushalten muss.

Ich bin gejagt worden, wie man nur ein ganz waidwundes Tier jagt, habe fünf Stunden im Sumpf gesessen, in eiskaltem Wasser bis zum Leib, unter dauerndem Beschuss von Panzern, die mir und einer kleinen Gruppe von Männern dorthin nicht folgen konnten, bis die Nacht hereinbrach. Wir hatten Kameraden befreien wollen, die schon elend umgekommen waren. Wir mussten in der Nacht den Sumpf durchqueren, gerieten vor der eigenen Linie noch in deutsches Feuer und sind nun wieder beim alten Haufen. Es ist hier ein erbittertes Ringen im Gange, von dem niemand etwas weiß.

Wenn die Kameraden so fallen oder verwundet werden, wundere ich mich immer und frage: wann ich? oder wofür mich der liebe Gott aufbewahrt? Ich suche den Sinn und gebe ihn, – indem ich mir der Menschlichkeit dieser Sinngebung bewusst bin, aber auch diese Menschlichkeit als von Gott erschaffen anerkenne –, dass ich dies alles erleben soll und in mir durcharbeiten. Ich soll später etwas über dies Geschehen sagen, vielleicht nicht über den Krieg, aber über das menschliche Wesen, das in diesem Krieg hervortritt.

 

6. Dezember 1943

Denk Dir ein unendliches, kahles Feld, hartgefroren, mit leichtem Schnee bedeckt, darüber pfeift ein schauderhafter Wind hin und bläst den dünnen Schnee hinter die Schollen, so dass die gefrorene Ackerkrume frei wird. Unsere Männer liegen auf diesem Feld fest verkrallt. Mit dem kleinen Infanteriespaten hacken und kratzen sie die steinige Erde auf, bis sie auf ungefrorenes Erdreich stoßen; da wird ein kleines Loch gegraben, in das sich ein oder zwei Männer hocken können. Da stehen sie drin, der eine wacht, der andere dämmert vor sich hin. Es ist eiskalt, nur die Körperwärme heizt. Der Feind erkennt schnell die Linie und schießt mit Granatwerfern auf das Feld. Die Männer stehen aufmerksam und schießen auf den ankommenden Feind. Wenn die Panzer die russische Infanterie schützen, kann man sich nur tief ducken und die Infanteristen im Nahkampf erledigen. Das Geschrei eines Getroffenen ist furchtbar, ohne Widerhall in der Einöde, es hat keiner Zeit, teilzunehmen. Jeder vertraut nur der Waffe und jener entsetzlichen Göttin Fortuna, von der diese Männer nicht einmal mehr den Namen kennen. – In der Nacht bin ich von Loch zu Loch gekrochen, die Männer brauchen Stärkung. Am Tag waren von 220 Mann unseres Bataillons 106 durch Wunden oder Tod ausgefallen. Wir sprachen nicht vom Tag, sondern von den Liebsten zu Haus und wann wir sie wiedersehen werden. Wir weinten nicht, und unser Äußeres erschien hart und wie eine bizarre Personifikation des rein Männlichen, Kalten, Kriegerischen. Aber unsere Herzen sind heiß und glühen für die Lieben in der Heimat.

 

9. Dezember 1943
[Letzter Brief]

Das Schlachtfeld erregt stets von neuem ein Schaudern in mir. Ich mag die Toten und das spritzende, strömende Blut nicht mehr sehen. Aber ich muss daneben ausharren wie einer, dem man dies zur Aufgabe gemacht hat.

Du hast einmal wunderbar gesagt, dass uns das beiderseitige Alleinsein ja wiederum zu Gemeinsamen macht. Das ist ein tiefes Erleben, dies Über-die-Ferne-hinweg-einander-Zuneigen und Suchen. Der Ring ist offen in zwei Teilen, aber beide Hälften sind einander so zugeneigt, dass es die Ferne ist, die ihn trennt und schließt. Wir werden ihn wieder schließen, wenn die nächste prüfende Zeit über uns hinweggegangen sein wird.

 

Oberleutnant Harry Mielert, geb. am 27.12.1912 in Sprottau/Schlesien, Angehöriger des Grenadier-Regiments 528, fiel am 15.12.1943 nordwestlich von Shlobin/Russland.

 

 

(Titelfoto: Soldatenfriedhof Bleialf,
November 2023)

 

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