Feldpostbriefe: Wenn Ihr diesen Brief bekommt (Veröffentlicht am 03.12.2022)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

„Wenn Ihr diesen Brief bekommt“ von Lilo Weinsheimer
(Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Erzählen ist Erinnern [1999], S. 33)

Ich heiße Barbara. Früher Schwester Barbara. Da sah ich sie sterben. Die, deren Namen mit weißer Kreide auf Tafeln am Kopfende der Eisenbetten geschrieben waren. Gefreiter, stand darunter, oder Schütze, Soldat, Leutnant, Grenadier. Daneben das Alter: 22 oder 32, 17, 19, 44. Manchmal blieb nicht Zeit genug, um Tafeln aufzuhängen, weil etwas Zerfetztes, Namenloses vorher starb. Das trug man in ein großes Buch ein. Als Abgang. Die laufende Nummer war eine vierstellige Zahl. Manchmal, wenn der eiserne Wirbel draußen kein Ende nahm, lehnte man den Kopf zwei Atemzüge lang an eine Mauer und dachte: „Ich kann nicht mehr“. Dann rief es aus einem Bett: „Schwester“. Manchmal hockte man auf einem Bettrand oder auf dem Boden und schrieb auf einen Fetzen Papier, was die Stimme des Sterbenden diktierte: „Liebe Eltern, wenn Ihr diesen Brief bekommt“, oder: „Meine liebe Frau und liebe Kinder“.

Manchmal las man bedrucktes Papier, auf dem stand, Krieg sei heilig, Sterben sei schön. Einmal konnte man nicht weiterlesen, weil sich einer den Verband vom Kopf gerissen hatte und schrie. Wenn man ein paar Tage Urlaub hatte, fuhr man nach Hause. Dort sollte man erzählen und wusste auf einmal nichts und fand nicht ein Wort, das dahin gepasst hätte. Abends, wenn es keiner sah, streichelte man ein Buch, ein Notenheft, ein Bild. Man hätte gern ein Buch aufgeschlagen, in dem Gedichte standen. Aber man konnte nicht. Einmal erinnerte man sich plötzlich daran: Ich bin zwanzig Jahre alt. Man zog sein schönstes Kleid an und wollte etwas erleben.

Aber als man versuchte, das Grauen von sich zu tun, die Angst, das Sterben, die weißen Gesichter, den hackenden Takt der Stiefel in den Nächten – als man wie im Fieber ein einziges Mal vergessen wollte, da war es so nah, wie nie zuvor. Da wusste man, dass man es überallhin mitschleppen würde, und fühlte, dass man hungrige, ausgebrannte Augen hatte.

Da ging man hinaus in den Wald. Es roch nach frischgeschnittenem Holz. Der weiße Nebel kam, und dann waren die Sterne da. Man blieb draußen und legte den Kopf dorthin, wo die Erde ihr Herz hat. Einmal saß man im Lazarett bei einem, der brennende Fieberaugen hatte und immer Hanna sagte. Fünfzehn Stunden lang hieß man Hanna. Dann war er tot. Man schrieb einen Brief an Hanna. Später hat man sie getroffen und ihr vom Sterben ihres Mannes erzählt. Sie war 19 Jahre alt und erwartete ein Kind.

Einmal fuhr man achteinhalb Stunden lang in einem vergitterten Wagen mit einem, der an seiner Trage festgebunden war, dessen Kopf in blutnassen Tüchern lag, der hinter diesen Tüchern achteinhalb Stunden lachte. Man schrieb auf einen Bogen Papier an einen Menschen, den es nicht gab: „Übrigbleiben ist das Schlimmste. Wir bleiben seit Jahren jeden Tag viele Male übrig“.

Einmal fragte man einen, der funkelnde Stiefel trug, goldene Schnüre an der Mütze, und von einem Bett zum anderen ging: „Warum lasst ihr das zu, ihr Großen, Klugen, Mächtigen? Warum helft ihr nicht?“ Sein neugieriges Gesicht wurde fahl. „Nerven“, sagte er dann eisig lächelnd. „Sie müssen einmal ausspannen, mein Kind“. Da schämte man sich, weil man eine Uniform mit einem Menschen verwechselt hatte.

Und einmal, da konnte man nicht mehr still und gefasst sein. Als man das Ungeheure fühlte, dass es ein Taumel war, in dem das Einzelne fast nicht mehr zählte; dass man beinahe schon daran gewöhnt war; dass man nicht mehr Kraft genug hatte, jedem Sterben einen Gedanken zu geben und jede atmende Welt, die da verging, zu lieben, als ob es die eigene wäre. Da bat man so verzweifelt, wie man noch nichts im Leben bisher erbeten hatte: Darum, wachzubleiben, fähig, das Furchtbare als Furchtbares zu erkennen, bewahrt davor, einzusehen und hinzunehmen, was sich an besinnungslosem Wahnsinn häuft und besinnungslos machen will.

Heute weiß ich, dass dies ein Gebet auf Leben und Tod war.

 

 

(Titelfoto: Waldfriedhof Aachen, Mai 2022)

 

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