Feldpostbriefe: Brief eines deutschen Soldaten aus Russland, Dezember 1941 (Veröffentlicht am 01.10.2024)
Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit
Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.
Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.
Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.
Feldpostbrief von Kurt Vogeler aus Russland, Dezember 1941 (Quelle: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939 – 1945, S. 109 f.):
„Die Welt hat viele große, ja gewaltige Kriege gesehen. Aber wohl niemals hat es einen Krieg gegeben seit ihrem Bestehen, der sich mit dem gegenwärtigen im Osten Europas messen könnte. Das gilt sowohl von seiner Ausdehnung, der viele Hunderte von Kilometern zählenden Hauptkampflinie, den ungeheuren Räumen, in denen die Schlachten geschlagen werden, den Millionenheeren feindlich sich gegenüberstehender Völker, aber auch von der Art und Weise der Kriegführung. Ich beabsichtige nicht, darauf näher einzugehen. Ich bin kein Generalstäbler oder Kriegsmann, der den Krieg nur mit den Augen des Taktikers sieht, sondern ein Mensch, der den Krieg als Mensch erlebt hat und erlebt.
Welch ein Elend tritt uns Tag für Tag entgegen. So kam ein Russe zu uns, will uns ein selbstgefertigtes deutsch-russisches Vokabular verkaufen, das heißt eintauschen gegen Brot. Wir waren gerade beim Essen und gaben ihm etwas ab. Wie ein Wolf stürzte er darauf los und verschlang es. Ein Anblick, den man nicht wieder vergisst. Der Mann war 58 Jahre und sprach englisch, deutsch, französisch und japanisch neben seiner Muttersprache. Als wir ihn nach seinem Berufe fragten, erzählte er uns, dass er viel krank sei und durch Anfertigung von Kreuzen, die um den Hals zu tragen sind, seinen Lebensunterhalt verdiene. Die Kreuze waren in ihrer Primitivität rührend und bewiesen die tiefe Gläubigkeit des russischen Volkes. Ich habe kein Haus gesehen, wo das Heiligenbild fehlte. Das russische Volk macht eine Leidenszeit durch, die gewiss ihren Sinn hat und vielleicht noch einmal für die ganze Menschheit von Segen sein wird.
Armes, unglückliches russisches Volk! Wer kann sich des Mitleids erwehren? Ist es doch dasselbe Volk noch, das uns die großen russischen Dichter und Schriftsteller nahegebracht haben, — das wir wegen der Tiefe seines Wesens lieb gewonnen hatten. Unsagbar ist seine Not und herzbewegend sein Elend. Kann denn kein Komitee im »hochkultivierten« Europa, das doch mit so großer Überheblichkeit auf den Russen herabsieht, hier aus reiner Menschlichkeit Hilfe bringen, das Gewissen der Welt aufrütteln, dass der Mensch als Mensch behandelt wird? Ich vergesse, die Zeit ist eine andere geworden und von Humanität will man nichts mehr wissen. Brutale Gewalt ist das Kennzeichen für unser Jahrhundert und so werden auch wir mitleiden müssen mit unseren russischen Brüdern und Schwestern, wir alle, denen Recht, Humanität und Menschenliebe eine Verpflichtung ihres Glaubens sind. Mitleiden — vor allem deshalb, weil es uns verwehrt bleibt, zu helfen, weil wir Hunderttausende, ja Millionen von Menschen leiden und hungern sehen, ohne die Möglichkeit zu haben, mit Wort und Werk gegen dieses Elend einzuschreiten. Welch ein unseliger Krieg ist dieses Menschenmorden im Osten Europas! Ein Frevel an der Menschheit!“
Kurt Vogeler, geb. am 02.09.1913 in Gieboldehausen-Eichsfeld, ist am 20.03.1942 am Ilmensee in Russland gefallen.
(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Niederlande,
Mai 2023)
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