Feldpostbriefe: Brief eines deutschen Soldaten aus Russland, 7. Oktober 1941 (Veröffentlicht am 02.03.2024)


Feldpostbriefe und ihre Bedeutung für die heutige Zeit

Bei den Recherchen nach Julius Erasmus kommt man zwangsläufig mit Feldpostbriefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Berührung. Seien es Mitteilungen über den Tod eines Soldaten, geschrieben von dessen Vorgesetztem an seine Angehörigen, die später Herrn Erasmus als Anhaltspunkt für eine Grabsuche übermittelt wurden oder andere Schriftwechsel zwischen im Krieg befindlichen Soldaten und ihren Familien zu Hause. Ich befasse mich seither auch näher mit Feldpostbriefen aus der damaligen Zeit.

Feldpostbriefe sind wertvolle Zeitdokumente, die gerade in Zeiten wie den gegenwärtigen ihre zeitlose Botschaft entfalten und einen anschaulichen Eindruck darüber vermitteln, was Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Sie sind ein wertvolles Werkzeug, um schon den Anfängen eines erneuten Strebens nach Krieg zu wehren und vielleicht dazu beizutragen, dass sich Geschichte nicht einmal mehr und mit abermals grausigen Folgen für die Menschheit wiederholt. Derzeit wird wieder einmal mit aller Macht für den Krieg, Waffen und das Töten von Menschen in großem Maßstab getrommelt, obschon man jahrzehntelang die vage Hoffnung haben konnte, dass die Menschheit aus den schmerzhaften Erfahrungen insbesondere zweier Weltkriege ihre Lektion endlich einigermaßen gelernt hat. Es scheint leider abermals nicht der Fall zu sein.

Vor diesem Hintergrund sollen hier in der Rubrik „Feldpostbriefe“ von Zeit zu Zeit entsprechende Briefe oder Briefauszüge aus unterschiedlichen Quellen veröffentlicht werden, um mit Nachdruck daran zu erinnern, was Krieg für die Menschen und die Menschheit bedeutet. Um einen Denkanstoß zu liefern und in der unerschütterlichen Hoffnung, dass dies einen Unterschied machen möge.

 

 

Feldpostbrief von Leutnant Hans-Joachim Breitenbach vom 7. Oktober 1941  an seinen Vater
(Quelle: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Letzte Lebenszeichen – Briefe aus dem Krieg, S. 34 ff.):

„Russland, den 7.10.1941

Lieber Vati!

Über die ‚Wunderkiste‘ – wie sie von meinen Soldaten genannt wurde — habe ich mich riesig gefreut. Es war mir wie Weihnachten, als ich all die schönen Dinge auspackte; jedes ein Gruß aus der Heimat; jedes wurde genau angesehen, gestreichelt und mit großem Hallo ausgewickelt. Besonderes Aufsehen hat natürlich der Pelz erregt. Die einen nahmen es als schlechtes Vorzeichen, die anderen als gutes, wenn sie meinten, dass wir ganz bestimmt nicht über Winter hierbleiben, wenn wir uns schon so sehr darauf vorbereiten. Ich sage aber: sicher ist sicher; mich kann nun nichts mehr erschüttern. Der größte Teil der Süßigkeiten hat auch schon seine Bestimmung gefunden; nur das Pflaumenmus liegt noch in der Kiste, wie auch die ungeborenen Puddings. Das alles soll erst den Weg aller Leckerbissen gehen, wenn wir wieder hier mit heilen Knochen heraus sind. – Aber ich will nun erst einmal erzählen, wie es uns im letzten Monat ergangen ist. Also, es steigt der Monatsbericht für September:

Bis zum 5. September lag ich mit meinem Zuge in Tur und sicherte dort im Rahmen der Kompanie die Eisenbahnbrücke über die Tigoda. Ich selbst lag mit meinem Zugtrupp und einer Geschützbedienung in einem russischen Holzhaus; lebte dort glücklich und zufrieden; nur ab und an von den Flöhen gepeinigt. Eines Morgens jedoch wurden wir durch einen Zufall wach und stellten fest, dass die Bude über uns lichterloh brannte — wohl Brandstiftung – also Sabotage! Wir nun, so wie wir uns schlafen zu legen pflegten, stürzten aus dem Fenster und mussten all unser Hab und Gut dem Feuer überlassen. Ich hatte insofern Glück, als ich kurz vorher die Posten kontrolliert hatte und noch in vollem Anzug war, so dass ich nicht – wie viele andere – nur mit Hemd und Hose und ohne Stiefel und Strümpfe in der Morgenkühle stand. Dabei sind mir nun meine ganze Ausrüstung, Trainingsanzug, Bade- und Sporthose, Feldbluse, Taschentücher, Wäsche, Strümpfe und tausenderlei andere Dinge verbrannt. Denselben Tag bekam ich noch den Auftrag, mit einer Pak [Panzerabwehrkanone] und 2 MG [Maschinengewehre] an die Tigoda-Mündung einen stehenden Spähtrupp zu legen. Da ich das Gelände von einem früheren Spähtrupp her kannte – damals hatte ich 2 Gefangene gemacht –, so fiel wohl auf mich die Wahl, dort meinen Haufen zu postieren und Übersetzversuche der Russen zu verhindern. In den nächsten Tagen erlebten wir dort auch tolle Sachen, denn der Russki setzte etwa 2 km weiter südlich von uns über; wobei wir ihm aber unerhörte Verluste beibrachten. Es wurde jedenfalls noch so toll, dass sogar die Division in heller Aufregung war. Nun heißt die Ecke dort mit amtlichem Namen laut Divisionsbefehl: ‚Breitenbach-Eck‘. Es war eine verteufelte Ecke, mitten im Walde an so einer Flussmündung; Feind von allen Seiten zu erwarten, dauerndes MG- und Granatwerferfeuer und der nächste deutsche Soldat 6 km entfernt!

Bald wurde ich aber wieder herausgezogen und mit meinem Zuge dem Regiment Leyser unterstellt, in dessen Abschnitt der Russe mit Panzern durchgebrochen war. Unsere Kradschützen sollten sie nach einem starken, vorbereiteten Stukaangriff [Sturzkampfflugzeug-Angriff] wieder heraushauen. Und wir immer feste mit dabei. Ich fuhr also mit meinen 3 Kanonen gleich hinter der stürmenden Infanterie her, um ihr den Panzerschutz zu geben. Die vorderste Linie wurde etwas nördlich der Bahn Ssalizy-Ostaschkino vorgetrieben, wo auch meine Geschütze mitten in der vordersten Linie in Stellung gingen — entgegen allen Vorschriften; ich hatte aber weiter hinten kein Schussfeld. –

Da wir ein ganz unheimliches Artilleriefeuer bekamen, gruben wir uns ein. Ich baute mir die ganze Nacht über mit meinem Zugtruppführer und meinem Fußmelder einen Unterschlupf: 2 m lang, 1 m breit und 60 cm tief in die Erde – tiefer sind wir wegen des harten Lehmbodens nicht gekommen –, darüber Balken und Erde. In dieses Loch mussten wir nun rückwärts reinkriechen, zu dritt (!), und sollten es für 36 Stunden nicht mehr verlassen. Denn am frühen Morgen setzte auf unserem Bataillonsabschnitt ein Trommelfeuer ein, wie es 1916, nach Aussagen von Weltkriegssoldaten, an der Somme nicht schlimmer gewesen ist. Nach vorsichtigen Schätzungen sollen 20 000 Granaten auf unsere Stellungen gegangen sein, von 15 russischen Batterien sowie zahlreichen Eisenbahn- und Fernkampfgeschützen. Wir haben für unser Leben keinen Pfennig mehr gegeben. Und wenn wir damals die Nase voll hatten, dann kann uns das keiner verübeln. 2 schwere Koffer (15 cm) [schwere Granaten] sind im Umkreis von 3 m, 3 weitere von 5 m und unzählige sonst um uns herum eingeschlagen. Nun musst Du Dir vorstellen: in so einem kalten Loch, nichts zu essen, keine Decke, keine Zigarette, keinen Platz, um sich zu bewegen. So haben wir einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag in diesem Loch gelegen und nur auf den Augenblick gewartet, in dem ein Volltreffer uns alle zu Salami verarbeitet hätte. – Viele Deckungslöcher hatten auch einen Volltreffer; so auch der des Fahrers von meinem 2. Geschütz, eines alten Obergefreiten, verlobt, Liegnitzer. Wie durch ein Wunder ist in meinem Zuge weiter nichts passiert. Dass der Obergefreite gefallen ist, merkten wir erst am Schluss der Kanonade, da wir ja die ganze Zeit die Nase nicht einmal aus den Löchern nehmen konnten. Bei den Infanteristen hat das Feuer allerdings ganz hübsch aufgeräumt. Die Verwundeten mussten draußen liegen bleiben, weil sich keine Maus bei uns blicken lassen durfte; schon gab’s Werfer- und MG-Feuer. – Na, wir waren froh, als der Höllentanz vorbei war.

Seit dem 9.9. liege ich nun in diesem Abschnitt. Doch jetzt ist es etwas ruhiger geworden, wenn wir auch oft allerhand Sachen herbekommen; in den ersten Tagen noch täglich so 1 000 – 1 500 Schuss. Hier ist fast jeder Quadratmeter umgepflügt. Am Tage ist es unmöglich, sich draußen zu bewegen. Jeden Tag holt sich Freund Hein seinen Tribut. Es ist ganz fürchterlich, hier liegen zu müssen und sich nur so abschießen zu lassen. – Das Essen, Munition und Post kommen nur nachts nach vorn; das Essen meistens sauer, jedenfalls immer kalt; oft sind nur die Böden der Kochgeschirre bedeckt; das andere ist durch das dauernde Hinlegen im Feuer ausgekippt. Dann heißt es wieder Kohldampf schieben. Wir sind alle ziemlich herunter.

Ich war 17 Tage vorne, ehe ich für ein paar Tage abgelöst wurde. Aber was das heißt, hier in dieser Hölle 17 Tage vorne zu sein, das kann sich keiner vorstellen! 17 Tage kein warmes Essen – wenn überhaupt Verpflegung nach vorne kam –, 17 Tage fast gar nicht geschlafen, 17 Tage eisige Kälte, viel Regen, feuchte Sachen, nasse Füße, keine Decken, 17 Tage nicht gewaschen, nicht rasiert, immer Durst – manche tranken das dreckige Lehmwasser, das sich so in den Löchern ansammelte – und dauernd Artillerie, Fliegerbomben, Granatwerfer, Panzer, schwere Maschinengewehre, Scharfschützen; Feuer von vorne, von links, von rechts, von halb rechts hinten und oben! – Da muss man Nerven wie Drahtseile haben! – An einem Tag haben uns die Russen mit einer schweren Batterie aus einem Holzbunker herausgeschossen. Dabei gingen mehrere Volltreffer auf unsere und andere in der Nähe stehende Bunker. Eine Geschützbedienung von mir wurde aufgerieben. Es gab viele Tote und Verwundete mit den scheußlichsten Verwundungen und auch, was ich hier zum ersten Mal sah, auch Nervenzusammenbrüche aller Schweregrade bis zur Idiotie. Mein Zugtruppführer, ein alter Oberfeldwebel, erlitt ebenfalls einen so schweren Nervenschock, dass er mit dem Flugzeug nach Deutschland transportiert werden musste. Die eine Bedienung war 4 Stunden verschüttet, ohne dass ihr Hilfe gebracht werden konnte. – Die jungen Soldaten, die frisch aus der Heimat als Ersatz gekommen waren, waren so fertig, dass sie geweint und geschrien haben. Ich musste sie einzeln wieder an die Geschütze bringen. Sie klammerten sich förmlich an mich und wollten nicht mehr von mir Weggehen; als ob es bei mir sicherer wäre. Und da soll man noch die Nerven zusammenhalten.

Am 13.9. machten wir einen Angriff auf Ssalizy, das uns schon so ungeheure Verluste gekostet hat. Während des Angriffs brach der Komp.-Chef [Kompanie-Chef], ein Ritterkreuzträger, zusammen. Ich übernahm dann für kurze Zeit die Kompanie. Aber wir wurden wieder vom Russen im Gegenstoß mit Panzern zurückgeworfen. Die Kompanie war aber schon zu schwach: 2 Offz., 4 Uffe., 35 Mann [Offiziere, Unteroffiziere]! Der dritte Zug war noch ganze 9 Mann stark! Bei den anderen Kompanien war es ähnlich! Bei dem Gegenstoß haben mir die Feindpanzer ein Geschütz mit ihren 10,5-cm(!)-Kanonen zerschossen, während unsere Geschosse wie Erbsen an den Panzerplatten abprallten. Dabei gab es auch noch einige Ausfälle. Aber es gelang uns, doch noch einen Panzer zu erledigen. An dieser Ecke habe ich auch einen 52-to- und zwei 32-to-Panzer abgeschossen. Für die Tage habe ich für meinen Zug 1 EK I und 10 EK II [Eisernes Kreuz 1. Klasse und Eisernes Kreuz 2. Klasse] eingereicht, die auch sämtlich bewilligt wurden.

Nun sitze ich nach einigen Erholungs- (sprich: anstrengenden Arbeits-) tagen wieder hier vorne und komme mir wie ein Höhlenbewohner vor; denn Tag und Nacht brennt in unseren Unterständen – wir sagen auf diese wackligen Dinger „Bunker“ – eine Petroleumfunzel. Es ist jetzt 4 Uhr morgens, lausig kalt, weil wir keine Öfen haben; und draußen macht sich der Russe bemerkbar. Wir liegen uns auf 100 – 50 m an manchen Stellen gegenüber. – Wenn ich jetzt gleich mal rausgehen muss, um eine Stange Wasser in die Ecke zu stellen, so weiß man nicht, ob die Hunde einen nicht erkannt haben und so ein paar Sächelchen herüberjagen. Die schießen sogar nach einzelnen Leuten mit Granatwerfern. Manchmal genügt es schon, wenn einer laut hustet oder spricht. Es ist ganz unheimlich; fast immer Kopfschüsse!

Deine Kiste ist in wenigen Tagen zu unserem AK [Artilleriekommando] gelangt, von wo ich die Mitteilung erhielt, sie dort abzuholen. Ich habe sie dann durch die Werkstattkompanie, wo ich als früherer Adjutant so gut wie zu Hause bin, abholen lassen und sie von dort in unser Ruhequartier geschafft. Die Süßigkeiten waren gleich verputzt, besonders, wo so viele sehnsüchtige Blicke meiner Soldaten die Leckerbissen in Augenschein nahmen. Und alle stellten einmütig fest, dass ‚Mutti Breitenbach‘ doch etwas von ihrem Hausfrauenhandwerk versteht. Alle warten schon auf die nächste Kiste. Sie wollen auch alle tragen helfen, falls sie zu schwer sein sollte! – Den Pudding koche ich mir bei meiner nächsten Ablösung, mit Schlagsahne und Rosinen. Hoffentlich komme ich mit meinem Zuge ganz aus dieser Ecke heraus, denn die Division ist schon in einem neuen Frontabschnitt; nur die Panzerjäger sind noch hier. Diese Division hier ist eine ostpreußische, die 21. I. D. [Infanterie-Division] Bekannte habe ich dabei noch nicht getroffen.

Den Gert habe ich auch nicht mehr aufsuchen können, da wir gerade in diesen Frontabschnitt geworfen wurden, als ich die Nachricht erhielt, dass er in meiner Nähe sei. Na, er hätte mich ja gar nicht beachtet, nachdem er zum Ritterkreuzträger eingereicht worden ist; denn er liebt ja die Angabe. — Aber das ist alles nur Glückssache. – Wenn ich stärkere Kanonen hätte, brauchte ich mir nicht die Haare auszuraufen, wenn alle Granaten an den 52-Tonnern wie Murmeln abprallen. – Hier an unserem Frontabschnitt gibt es keine Ritterkreuze; nur Splitter ins Kreuze; und unser Wahlspruch heißt: Wir wollen heim, uns reicht‘s (heim ins Reich). – Den Rest geben uns noch die Läuse, Flöhe und Wanzen, die sogar die Torturen der Entlausungsanstalt überstehen! Oder sind es wieder neue? Ich bin schon wieder reif für die Entlausung, aber werde frühestens erst am 12.10. abgelöst. – Also Geduld und weiter gesucht! In meinem Hemd fand ich heute wieder 12 Läuse; die Flöhe lassen sich leider nicht fangen.

Aber von all diesen unseren Nöten erfährt die Heimat ja nichts; denn hier bei uns lassen sich keine Propaganda-Leute blicken. – Und wir schreiben so selten; denn schreiben heißt hier, seine Nachtruhe opfern. – Und dann wollen wir ja auch nicht klagen. – Aber diesmal können wir auch nichts Lustiges berichten, denn wir haben schon seit 4 Wochen nicht mehr gelacht.

Wenn ich jetzt noch bei der Division wäre – ohne mich dahin zurückzusehnen –, so wäre ich auf 8 Tage jetzt in Berlin gewesen, denn mein Nachfolger ist per Luftibus hingeflogen.

So, lieber Vati, jetzt will ich schließen; es ist jetzt 5 Uhr und unerträglich kalt geworden. – Deine Wäsche ist die einzige, die ich besitze, abgesehen von der schmutzigen Garnitur, die ich seit dem Brande bzw. einige Tage davor bis vor kurzem getragen habe. Ich kann nicht mehr feststellen, welche Farbe das Hemd hatte!

Wenn Du noch einmal ein größeres Paket an mich abschicken solltest, so kannst Du vielleicht einen Benzinkocher besorgen, damit wir uns das kalte Mittagessen etwas wärmen können, wenn wir vorne sind. Offenes Feuer können wir ja nicht anmachen. Und Kuchen und Marmelade!

Vielen, vielen Dank für die Wunderkiste; herzliche Grüße und ein gesundes Wiedersehen hoffentlich zu Weihnachten!

Dein
Hans-Jochen“

 

Hans-Joachim Breitenbach, geboren am 5. November 1919 in Berlin-Wilmersdorf, fiel als Leutnant in der Panzerjägerabteilung 18 am 13. Januar 1942 bei Staraja Russa/Russland.

 

(Titelfoto: Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Niederlande,
Mai 2023)

 

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