Tagebücher aus dem Krieg: Die Erinnerungen der deutschen Krankenschwester Elfriede Schade-Bartkowiak an ihre Zeit in deutschen Lazaretten an der Ostfront zwischen 1941 und 1945 – Der Soldat ohne Kiefer und Arme (Veröffentlicht am 12.12.2025)
Ärzte und Krankenschwestern, die während der Zweiten Weltkriegs in Lazaretten eingesetzt waren, können besonders anschaulich darüber berichten, welche Folgen Krieg hat. Neben dem hier bereits vor einiger Zeit wiedergegebenen Bericht von Lilo Weinsheimer beschreibt die damalige Rot-Kreuz-Schwester Elfriede Schade-Bartkowiak in ihrem Buch „Sag mir, wo die Blumen sind…“ aus dem Jahr 1989 anschaulich den Horror des Krieges, den sie in Lazaretten an der Ostfront erlebt und niedergeschrieben hat.
Die Hintergründe von Frau Schade-Bartkowiak, ihr Weg zur Ausbildung als Krankenschwester und ihre ersten Erfahrungen wurden bereits geschildert. Besonders eingängig ist ihre Beschreibung eines jungen Soldaten, der im Kampf neben einer schweren Kopfverletzung auch den Verlust beider Arme erlitten hatte.
Sie schreibt (Quelle: Schade-Bartkowiak, Sag mir, wo die Blumen sind, S. 28 ff.):
„Eines Tages kam ich auf die Station, als mir der Gefreite von der Schreibstube einen Brief gab.
»Für Sie, Schwester! Klappt doch prima mit der Feldpost!«
Ein Brief! Ah — ein Brief. Ja so, natürlich, man konnte ja Post bekommen, ich drehte ihn in der Hand, las den Absender, von Mutti, ich seufzte — von Mutti.
Aber da kam schon Schwester Hedwig mit den Verordnungen für die Nacht:
»Ich bin bei dem Bauch in Stube 8. Wir müssen ihn festbinden, er tobt zu sehr, und Wanda wird nicht fertig mit ihm. Gucken sie doch öfter mal nach ihm. Er ist ein Künstler im Entfesseln, hat sich heute schon fünfmal den Verband abgerissen…«
Der Brief wanderte in die Tasche zu dem Notizblock, und ich begann meine Runde. Es war viel zu viel zu tun, so dass ich den Brief vollkommen vergaß.
Vom Stalingradabschnitt war ein großer Lazarettzug angekommen, und die Tragen mit den Zugängen stauten sich unten vor der Entlausung. Nachher mussten sie im OP oder auf den Stationen frisch verbunden werden. Alle Stuben und Säle waren schon voll, im Treppenhaus und in den Gängen war kaum ein Durchkommen. Die Russenträger schleppten zusätzliche Strohsäcke herbei, immer mehr Sankras [Sanitätskraftwagen] spieen ihre traurige Last aus. Die OP-Räume strahlten als einzige hell im Schein der Dynamolampen. Keiner der Ärzte und Schwestern konnte in dieser Nacht hoffen, Schlaf zu finden.
Diesmal waren es vornehmlich Kiefer- und Kopfschüsse, die ausgeladen wurden, im Erdgeschoß hatte die Genesungskompanie von gegenüber am Tag zuvor noch mehr Etagenbetten aufgestellt.
Bald füllten sich die Räume mit rasselnden Atemzügen oder unartikulierten Lauten, denn fast keiner der Verwundeten konnte richtig sprechen, wenn sie auch sonst nicht so unbeholfen waren.
Ich legte überall mit Hand an, wo es notwendig war. Half den Männern von den Tragen auf und sich in die Betten legen, befestigte die Moskitonetze gegen die Fliegen und verstaute die Habseligkeiten unter den Kopfkissen. Ich lief zum OP, um Frischoperierte in Empfang zu nehmen, holte mir Gummischläuche und Tee, mit denen ich die Durstigen tränkte … der Tag graute fast, als der Zustrom endlich abzuebben begann.
Die Kieferstation bot ein unheimliches Bild: Durch die Etagenbetten und die Moskitonetze darüber, wirkten die Räume noch düsterer und trostloser als sonst. Die Luft war stickig, Atemzüge gingen keuchend, unter den Netzen lagen Gestalten, die manchmal keine Ähnlichkeit mehr mit Menschen hatten. Unförmige, riesige Kopfverbände leuchteten gespenstisch aus dem Dunkel.
Jetzt endlich, beim Fiebermessen, konnte ich mich auf die Einzelnen konzentrieren, ich schlug das Moskitonetz eines Unterbettes zurück, um das Thermometer einzulegen und den Puls zu fühlen…
Aber – oh mein Gott! Da war nichts! Dort lag ein Körper und ein riesiger Kopfverband und seitlich noch zwei kleinere Verbände, wo bei einem Menschen die Arme beginnen?
Der Vorhang entfiel meiner Hand, und ich stand einen Moment wie gelähmt. An mein Ohr traf ein kehliger Laut, fragend, drängend, ich nahm den Gummischlauch und den Becher mit Tee, hob den Vorhang und führte den Schlauch in das Loch in der Mitte des Kopfverbandes. Glucksend wurde der Becher halb geleert. Dann drehte sich der Verband mir zu, und wieder trafen mich die Laute.
»Was will er denn noch?« dachte ich. »Mein Gott, was kann ich tun?«
Ratlos spielten meine Finger mit Notizblock und Bleistift, die ich für diejenigen bei mir hatte, die nicht sprechen konnten.
Aber das war doch sinnlos! Wie soll ein Mensch mit zwei amputierten Armstümpfen schreiben können? Die Gurgellaute waren nicht zu verstehen. Plötzlich – ich atmete auf – mein Gehirn schien wieder zu funktionieren, ich hatte doch einen Mund, konnte fragen:
»Haben Sie noch Durst?« Kopfschütteln.
»Drückt der Verband – haben Sie Schmerzen?«
»Brauchen Sie den Schieber, die Flasche?« Wieder Kopfschütteln.
»Liegen Sie schlecht?«
Auf alles und jedes reagierte das unheimliche Wesen mit einem fast unmerklichen, aber immer ungeduldiger werdenden Kopfschütteln. Ratlos ließ ich das Moskitonetz wieder sinken, worauf mir ein maßlos enttäuschtes Schnauben und Gurgeln antwortete.
Während ich weiter meine Arbeit tat – Fiebermessen, Pulsen, zu trinken geben, Wünsche erfüllen, die auf meinen Notizblock gekritzelt wurden, zermarterte ich mir das Gehirn: was will er, was kann dieser Mensch wollen? Ein Mensch, dieses Wesen ohne Gesicht, ohne Stimme, ohne Arme, und dieses Wesen will etwas von mir, hat einen Wunsch, was kann ein Mensch sich wünschen, der keine Stimme, keine Augen und keine Arme mehr hat?
Wie zufällig berührte meine Hand den Brief in der Tasche – den Brief der Mutter…
Der Brief! Das war es!
Ich rannte zurück, zwischen den Betten hindurch und hob den Vorhang:
»Soll ich einen Brief für Sie schreiben?«
Ja – ja! Die Antwort – ein heftiges Nicken. »… ich lebe und bin auf dem Weg in die Heimat.«
Und wieder musste ich eine Lektion im Buch des Lebens dazulernen: Sich einzuigeln und abzukapseln, Gefühle zu verdrängen, sie nach Bedarf ein- oder auszuschalten wie einen Lichtschalter – zum eigenen Seelenfrieden, als Panzer – das war nicht genug hier draußen.
Die eigenen Probleme – das erkannte ich plötzlich – meine Ängste, meine Scham darüber, mein Selbstmitleid und die Trauer um verlorene Ideale – das war ja alles so unwichtig, so klein, so nebensächlich. Diese Menschen hier brauchten nicht nur eine Fachkraft, die Anstrengungen der Nachtwache – sie brauchten mich mit Haut und Haaren, vor allem aber brauchten sie mein Mit-Fühlen, Mit-Denken, Mit-Leiden.
Es war kein leichter Lernprozess, und die Belastung wurde nicht weniger. Ich brachte von nun an viel Zelt damit zu, nach Dienstschluss Briefe für die Verwundeten heimzuschreiben, mir Bilder ihrer Angehörigen anzusehen und mir ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Ich erfuhr von Frauen, die daheim ein Kind erwarteten, während sie Ihre Männer im Kampf um Stalingrad wussten. Ich erkannte die hilflose Sehnsucht nach daheim bei einem ganz jungen Infanteristen und erfuhr von der Ungeduld des Leutnants, schnell wieder gesund zu werden und bei seinen Männern zu sein.
Die Höhen und Tiefen des Soldatendaseins lagen vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch. Heimweh und Sehnsucht, Angst und Verzweiflung, Mut und Tapferkeit, Leichtsinn und Fatalismus, Liebe und Zorn – die ganze Bandbreite menschlicher und männlicher Gefühle. Und wo Worte nicht ausreichten, da lernte ich in den Augen zu lesen.
Mag sein, und man sagt, dass Augen alleine keine Gefühle ausdrücken können. Aber mit den Gesichtern zusammen sprachen sie zu mir. Die Augen faszinierten mich, die blauen, braunen, trüben, fiebrigen, hellen und dunklen, jungen und alten. Mein ganzes Leben lang wird mich die Verzauberung der Augensprache nicht mehr loslassen.“
Wenn in Deutschland wieder einmal die „Kriegstüchtigkeit“ hergestellt werden soll, sind Erfahrungsberichte wie der von Elfriede Schade-Bartkowiak von unschätzbarem Wert, um daran zu erinnern, was Krieg bedeutet.
Möge man sich daran erinnern und diesmal „Nein!“ sagen.
(Titelfoto: Grabkreuz auf dem Deutschen Soldatenfriedhof in Lommel/Belgien,
Dezember 2025)
Meine Arbeit können Sie hier unterstützen, vielen Dank!
