Tagebücher aus dem Krieg: Die Erinnerungen der deutschen Krankenschwester Elfriede Schade-Bartkowiak an ihre Zeit in deutschen Lazaretten an der Ostfront zwischen 1941 und 1945 (Veröffentlicht am 24.10.2025)
Die politischen Protagonisten in Deutschland schlagen die Kriegstrommeln, als gäbe es kein Morgen und als hätte es den Zweiten Weltkrieg und seine dramatischen Folgen nie gegeben. Gegenüber den inzwischen fast täglich mit zunehmender Hysterie zu vernehmenden Aufrufen, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, lohnt sich der Blick auf die Erfahrungsberichte derjenigen, die Krieg erlebt haben.
Besonders eindrücklich sind Berichte von Ärzten und Krankenschwestern, die damals in Lazaretten eingesetzt waren und täglich mit dem Horror konfrontiert wurden, den „Kriegstüchtigkeit“ produziert. Neben dem hier bereits vor einiger Zeit veröffentlichten Bericht von Lilo Weinsheimer lohnt sich ein Blick in das Buch „Sag mir, wo die Blumen sind…“ aus dem Jahr 1989, in dem die damalige Rot-Kreuz-Schwester Elfriede Schade-Bartkowiak ihre Kriegserinnerungen an der Ostfront niedergeschrieben hat.
Einige Schilderungen daraus sollen hier wiedergegeben werden.
Die Autorin beschreibt einleitend die damalige Stimmung in der deutschen Bevölkerung, insbesondere unter der Jugend (Quelle: Schade-Bartkowiak, Sag mir, wo die Blumen sind, S. 8 f.):
„Zu Hause war erst einmal nichts weiter. Alarm- und Einsatzübungen, Auffrischen des Rot-Kreuz-Kurses. Euphorische Stimmung überall bei den Jungen, Ernst und Nachdenklichkeit bei den Alten, nachdem sich die erste Überraschung gelegt hatte.
Ein abenteuerlicher Rausch aber hatte die Jugend der Stadt erfasst. (…) Eigentlich war es ein Bilderbuchkrieg gewesen, der Polenfeldzug. So, genauso, wie ich und tausende anderer junger Menschen sich ihn in unserer Abenteuerphantasie vorgestellt hatten: Fanfarenklänge, Sonder-Siegesmeldungen, Vormärsche, – Blitzkrieg. Eine Erfolgsmeldung jagte die andere.
Die ersten Verwundeten tauchten auf. Leichte Verwundungen nur, Heimatschüsse. Sie wurden im Reservelazarett im Mutterhaus des Nonnenklosters untergebracht, dem ich als Hilfsschwester zugeteilt wurde. Sie wurden im Triumph, mit Blumen und Ehrungen am Bahnhof empfangen, und sie lachten und ließen sich verwöhnen. (…) Ein gemütlicher Dienst war das! Stuben, dicht belegt mit übermütigen Landsern, die sich für ihre Heimatschüsse von den Mädchen der Stadt gebührend bewundern ließen. Sehr kleidsam, so ein Stirnverband oder der Arm in der Schlinge. Alle Schulfreundinnen tauchten plötzlich auf und übten sich in der Verwundetenbetreuung. (…)
Herrgott – waren wir jung und unbekümmert damals und stolz, zu einer großen und siegreichen Nation zu gehören! Der Krieg war sehr weit weg und auch sehr bald beendet, und er hatte für uns noch nichts von dem Schrecken der kommenden Jahre. Wir hatten in unserem Städtchen eine behütete, wundervolle Kleinstadt-Kindheit verlebt. In einer Welt, die damals, wenn man es recht bedachte, doch sehr eng war. Aber das störte nicht. Für uns normale Deutsche endete die Welt an Deutschlands Grenzen. Alles jenseits dieser Grenzen blieb uns weitgehend unbekannt und war völlig außerhalb unserer Vorstellungskraft.
Das Radio – der Volksempfänger mit seiner geringen Reichweite –, die lokale Zeitung und der völkische Beobachter waren hier die einzigen Nachrichtenquellen. Im Urlaub fuhr man in den Harz, in den Schwarzwald oder an die Ostsee, oder – seit einiger Zeit auch ins heimgeführte Österreich.
Unsere Welt war klein und überschaubar und – wir liebten sie. Was uns aber nicht hinderte, von der großen, weiten Welt zu träumen und nach Abenteuern zu lechzen – wie wohl alle jungen Menschen.
Und jetzt war es da – das große Abenteuer!
Ein siegreich beendeter Feldzug, Flieger, die den Himmel stürmten, rollende Panzer, die unaufhaltsam in Feindesland vordrangen, der aufreizende Rhythmus der Marine »… und wir fahren gegen Engeland …« wehende Standarten, Siegesfanfaren …
Das alles vermischte sich in unserer Phantasie mit den Heldentaten unserer Vorfahren.
Ich hatte, wie die meisten Kinder der damaligen Zeit, die Epen deutscher Vergangenheit in mich hineingestopft: Die Nibelungen, vom Alten Fritz und Blücher, von den Lufthelden des 1. Weltkrieges, hatte Flex und Rilke gelesen, Eggers und Dwinger… Sie alle waren die Idole unserer Jugend. Und mit dieser rosaroten Brille auf der Nase waren wir bereit, jetzt die Abenteuer unserer Zeit zu erleben.
Und da war natürlich Hitler, der Führer, der uns in seiner Hitlerjugend den Stolz lehrte und das Vertrauen in die eigene Stärke. Wagemut, Tapferkeit und die Liebe zum Vaterland galten als die höchsten Tugenden.
Die kleinen Opfer, die dafür von uns gefordert wurden – Disziplin, Gehorsam, das Einfügen in die Volksgemeinschaft, »Kanonen statt Butter«, und dass der Kaffee verdammt oft eher nach Muckefuck schmeckte –, das war unwichtig.
Ich weiß – ich weiß! Das klingt für heutige Begriffe sehr nach Propagandasprüchen und reichlich einfältig. Aber – ganz ehrlich – welche Jugend ließe sich nicht von Phrasen und Sektierern verführen und berauscht sich nicht an der eigenen Stärke, wenn man es ihr nur lange genug einredet!?
Und welche Jugend forscht schon nach Hintergründen und zweifelt, wenn sie glauben will und Vertrauen hat? Warum sollten wir auch? Uns ging es gut, unseren Eltern ging es endlich wieder gut, wir waren stark und selbstbewusst und bereit, eine neue Welt zu schaffen – was immer wir damals auch darunter verstanden haben.“
Nachdem Frau Schade-Bartkowiaks Freund im Kampf gefallen war, kam sie zu dem Schluss, dessen Andenken durch eine aktive Kriegsteilnahme besser ehren zu können und ließ sich kurz vor Beginn des deutschen Angriffs auf Russland zur Lazarettschwester ausbilden. Sie schreibt (a.a.O., S. 12 ff.):
„Und wieder gab es einen neuen Krieg. Zwangsläufig fast, so schien es uns damals. Diesmal gegen Russland. Nur die Alten, die nicht nur die Hölle der Sommeschlacht, sondern auch die endlosen Weiten der Schlachtfelder in Russland erlebt hatten, machten sehr ernste Gesichter.
Auch mein Vater! Ich war irritiert und auch enttäuscht von ihm. Wenn er in Friedenszeiten von den militärischen Reservistenübungen in seiner schmucken Uniform nach Hause kam, war ich immer so stolz auf ihn. Aber am Tage der Verkündung des Krieges gegen Russland war er bleich geworden wie die Wand und hatte gemurmelt:
»Oh – mein Gott!«
Die Angst in den Augen der Eltern erschien mir unbegreiflich. Aber jetzt war i c h ja da und würde schon meinen Mann stehen, wenn ich auch – Gott sei‘s geklagt – kein Junge war.
Ein Dreivierteljahr später stand ich am Fenster eines Fronturlauberzuges und sah in die Dämmerung hinaus. (…) Ich war jung und unerfahren damals und steckte bis zum Rand der Schwesternhaube voller Ideale und Erwartungen. Die Anrede »Schwester« war mir ja inzwischen vertraut, ebenso wie das Kleid, die Schürze und die Haube. Nur der harte Gummikragen war neu, der den Hals wundscheuerte, und das Kostüm mit den Kragenspiegeln und der Rot-Kreuz-Armbinde. Und dann die Feldausrüstung mit Brotbeutel, Feldflasche, Gasmaske und die Erkennungsmarke, die ich in einem Lederbeutelchen um den Hals trug.
Endlich hatte ich es geschafft! Ich war auf dem Weg an die Front. Der Krieg würde nicht zu Ende gehen, ohne dass ich dabei gewesen war, ohne dass auch ich mein Bestes gegeben hatte, um dem Vaterland zu dienen.“
Ihr Einsatz ließ nicht lange auf sich warten und veränderte ihre Sicht auf den Krieg radikal (a.a.O., S. 21 ff.):
„»Einige Kilometer südlich liegt ein anderes Kriegslazarett, das dringend Hilfe braucht«, verkündete eines Tages ein Stabsarzt, und ich meldete mich sofort freiwillig. (…)
Nach einem Tag lang Fahrt über staubige, holprige Straßen kam der KOM [Kraftomnibus] in eine kleine Stadt, die sich langgestreckt zwischen endlos weiten Sonnenblumenfeldern duckte.
Die Häuser, klein und alt, weit auseinandergezogen, säumten eine breite, ungepflasterte Straße, die auf einen großen Platz mündete. Mitten auf dem Platz ein riesiger Gebäudeklotz, eine ehemals russische Kaserne. Daneben ein kubistischer Denkmalsockel ohne Denkmal. Die Kaserne war das Lazarett. Links davon lange Reihen von Soldatengräbern mit Holzkreuzen und kleinen Namenstafeln. Ihr Anblick traf mich wie ein Schock, obgleich ich damit hätte rechnen müssen. Wo ein Lazarett ist, wird auch gestorben hier im Feld. Aber so viele!
Rund um den Platz zwei- bis dreistöckige Steinhäuser. An einer Straßenecke, in Sichtweite des Lazaretts, ein ehemals pompöses Mietshaus, zur Ecke hin abgerundet: Die Unterkünfte des Lazarettpersonals.
Jetzt war das Haus nicht mehr pompös. Die Fensterscheiben waren zum Teil durch Pappe oder Strohwische ersetzt, die Lichtleitungen tot, und das einzige Mobiliar, das ich in dem Raum vorfand, der mir zugewiesen wurde, waren ein Strohsack auf der Erde und ein Moskitonetz darüber.
Am Abend schon sollte mein Dienst als Nachtschwester auf der »Großen Chirurgie« beginnen. (…) Ich zitterte vor Aufregung bei dem Gedanken, dass man mir meine geringe Erfahrung anmerken könnte. Geringe Erfahrung! Lachhaft! Überhaupt keine Erfahrung mit Frischverwundeten. Würde ich auch die Betten richtig machen können, ohne dem Patienten wehzutun? Würde Ich die Verordnung richtig ausführen und nichts vergessen oder falschmachen? Sicherlich würde ich anfangs nur mit einer älteren, fronterfahrenen Schwester mitlaufen. Hoffentlich war sie nett und ließ mich einmal etwas anderes tun als nur Bettenbauen, Putzen und Schiebertragen! Sicherlich waren die Soldaten hier nicht so lustig wie im Heimatlazarett, sie müssten ja müde sein vom Kampf.
Ja! Etwas in der Art dachte ich damals. Törichte Gedanken, dumm und einfältig. Nur wusste ich zu dieser Stunde noch nicht, w i e töricht sie waren.“
Ohne Vorwarnung wird Elfriede Schade-Bartkowiak unmittelbar mit dem Horror des Krieges konfrontiert (a.a.O., S. 22 ff.):
„In einem düsteren, riesigen, steinernen Treppenhaus wartete ich auf die Stationsschwester, die mich einweisen sollte.
»Kommen Sie schnell, Schwester, ich zeige ihnen das Nötigste. Ich bin Schwester Hedwig. Hab nicht viel Zeit, ein Lazarettzug steht am Bahnhof, wird gerade ausgeladen. Helfen Sie erst mal, den Verbandswagen aufzufüllen …«
Tupfer drehen, Platten schneiden, gewaschene Binden aufrollen, Bestecke und Spritzen aus dem Steri nehmen. Der Verbandsraum war einfach, aber ganz gut ausgerüstet. Als wir fertig waren, ist es schon dunkel geworden, und unten vor dem Haus rollten die ersten Sanitätsfahrzeuge an.
Plötzlich ging das Licht aus.
»Verdammt! Schon wieder kein Strom! Hier, nehmen Sie die Kerze. – Tut mir leid, aber ich muss in die Entlausung. – Aber Sie werden sich schon alleine zurechtfinden! Unten sind die Kieferschüsse, hier im Saal die mit den Streckverbänden, nebenan die Bauchschüsse und die Amputationen, und oben die Lungen und die anderen …«
»Ja – aber – Schwester Hedwig! Bin ich denn alleine?« »Natürlich, hat man ihnen das nicht gesagt? – Ach – keine Angst! Ich bin ja noch ein paar Stunden da, wenn was ist…« und – weg war sie.
Ich zündete mit flatternden Händen die Kerze an und machte mich auf den Weg.
Und damit begann die grauenhafteste Nacht meines Lebens.
In jedem Winkel, in jedem Zimmer des großen Hauses stöhnte es und rief es. Bleiche, schmerzverzerrte Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder im Dunkel. Hände griffen nach meiner Schürze und Stimmen bettelten:
»Schwester – Wasser!«
»Schwester – hilf mir!«
»Schwester – mein Bauch! Es tut so weh!«
Ich kam nicht zur Besinnung, lief von Zimmer zu Zimmer, treppauf, treppab mit meiner kleinen Kerze.
Eine Kerze. Kleines, armseliges Licht einer Kerze. Wie wenig – wie viel kann sie erleuchten – beleuchten!
Die Wahrheit! Die nackte Wahrheit über »meinen Krieg«!
Der Schein der Kerze ist so klein, und wenn man sie in der Hand trägt beim hastigen Lauf durch Gänge, Treppenhäuser und Stuben, dann flackert das Licht, verzerrt und entzerrt, und man sieht nur das, was unmittelbar vor einem ist.
Das ist Hilfe und Härte zugleich. Kein großer Überblick, dafür aber wie in einem Brennglas jede einzelne Gestalt überdeutlich in all ihrem Elend.
Brutal und rücksichtslos zerrte mich die Bestie Krieg von Lager zu Lager, entblößte gnadenlos die Wunden, die sie geschlagen hatte, verpestete die Luft um mich mit dem Geruch von Eiter, Schweiß, Blut und Kot, dass es mir den Atem nahm. Rotes schien in mein Gehirn zu sickern, wie es auf den Boden der großen Halle tropfte, und ich meinte ersticken zu müssen, wie die Kieferschüsse im Erdgeschoß, die röchelnd um ein Quäntchen Luft rangen.
Nur immer einen einzelnen Fall zeigte mir der Schein der Kerze und löschte ihn wieder aus, wenn ich an das nächste Lager trat.
Nur die Begleitmusik blieb. Selbst in den Keller drang sie mir nach, wo ich mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen verkrochen hatte, in den hintersten Winkel, vor Grauen geschüttelt, während meine Hand ängstlich darauf bedacht war, die kleine Kerzenflamme vor dem Erlöschen zu schützen.
Dann trieb es mich wieder hinauf. Tausend Hände hätte ich haben mögen, tausend Füße. Warum konnte ich nicht schneller laufen! Hier eine Spritze, dort einen Becher Wasser, den Schieber, die Brechschale. Da war der Verband ab, und ein schwarzes Loch grinste mich an, wo einmal ein Auge war. Am Fenster blutete einer, dass die dunkle Lache schon unterm Bett stand.
In jedem Winkel, in jeder Stube stöhnte es und rief es, tauchten bleiche, schmerzverzerrte Gesichter auf und verschwanden wieder im Dunkel, bettelten fiebrige Augen um Hilfe.
Das Haus war groß, und ich verirrte mich oft. 200 Verwundete sollten es sein, und jetzt kamen laufend neue hinzu. Im Treppenhaus und in den Gängen stauten sich die Tragen mit den verhüllten Gestalten.
Im Röntgenraum lagen drei Sterbende, ihre provisorischen Lager hatte man neben dem ewig tropfenden Wasserhahn aufgestellt. Unheimliches Gerät stand herum und ließ mich im Dunkeln darüber stolpern. Die Finsternis war erfüllt von rasselnden Atemzügen.
Ich wollte nicht dorthin gehen müssen! Ich hatte doch noch nie im Leben einen Sterbenden gesehen. Wenigstens nicht heute schon, nicht in dieser Nacht, die sowieso schon so furchtbar war!
Doch ich musste. Schwester Hedwig schüttelte nur verständnislos den Kopf und hastete weiter zum OP.
Ich entfloh dem Ort, verkroch mich irgendwo in einem Winkel, hatte auch da Angst. Mir war schlecht. Draußen schrie etwas, und ich hörte das Stöhnen bis hierher.
Als der Morgen dann hinter den trüben Fenstern aufkam, hatte ich auch das überstanden. Die drei waren tot. Ich wusste dann nicht mehr, wie die Nacht zu Ende gegangen war. Ich wusste überhaupt nichts mehr, als nur das e i n e : Ich würde das nicht mehr tun können! Ich würde nicht noch ein einziges Mal eine Nacht in diesem grauenhaften Hause zubringen können!“
Dennoch tat sie es (a.a.O., S. 24 f.):
„Selbstverständlich tat Schwester Hedwig am nächsten Tag ihren Dienst, trotz der durchwachten Nacht. Und selbstverständlich betrat auch ich am nächsten Abend um sieben Uhr wieder das Haus, empfing eine Schürzentasche voller Morphiumampullen und Herzmittel, die Spritzengarnitur und den Abbindeschlauch, den ich mir – wie alle anderen – der Einfachheit halber um den Hals hing, damit er sofort greifbar war.
Schwester Hedwig zeigte mir, was zu zeigen war, dann verlosch das Licht wieder. Die Kerze und ihre Magie beherrschten wieder die Nacht.
In dieser Nacht bewegte ich mich wie in Trance, wie unter einem hypnotischen Zwang. Ich hatte zwar noch immer die gleiche Angst und das gleiche Gefühl des Grauens, aber ich lief durch das Haus, tat meinen Dienst, als sei das nicht ich selber, als sei das eine völlig fremde Person, diese Schwester da. Ich lief auch nicht mehr davon, wie in der letzten Nacht, blieb von selbst bei den Sterbenden. Diesmal waren es wieder zwei, die die Ärzte für »in faust« erklärt hatten [bei einer infausten Prognose ist in der Regel mit dem Tod des Patienten zu rechnen].
Es gab keine Ruhe, keine Zeit zum Hinsetzen. Auch das Essen, das unten im Kasino für mich bereitstand, rührte ich nicht an. Diese Nacht war ich alleine mit 300 Schwerverwundeten und vier Russinnen, die kein Wort Deutsch verstanden.
Ich schlängelte mich zwischen den Extensionsgestängen hindurch, ohne anzustoßen, stieg über Matratzen auf dem Boden, balancierte meine Kerze durch Stuben, Korridore und Treppenhäuser wie eine Marionette, mechanisch und so, als wäre ich selbst letzte Nacht gestorben.
In der Frühe war ich unter mein Moskitonetz gekrochen wie ein verwundeter Hund, hatte den Kopf auf die gekreuzten Arme gelegt und die Zähne in den Zeigefinger gebissen, wie ich es als Kind immer getan hatte, wenn etwas scheußlich wehtat. Ich hätte schreien mögen oder weinen. Ich sehnte mich nach jemandem, der mir versichern konnte, dass das alles nicht wirklich und nur ein Alptraum war. Dann lag ich Stunde um Stunde auf dem Rücken, ohne etwas anderes zu denken als »Nein – nein!«
Bis die russische Dämmerung unvermittelt hereinbrach. Dann stand ich auf, stellte fest, dass ich den ganzen Tag mit der Haube auf dem Kopf gelegen hatte, holte mir eine andere aus dem Koffer, band sie um, strich die Schürze glatt und ging hinüber.“
Schon die ersten Nächte änderten ihre Weltsicht komplett, als sie erkannte, dass der Soldatentod – entgegen allem, was ihr vermittelt worden war – tatsächlich wenig heroisch, sondern vielfach ein elendes Verrecken ist (a.a.O., S. 25 ff.):
„In jeder der kommenden Nächte starben sie. Fast alle, die ich abends im Röntgenzimmer vorfand, dazu noch andere aus den Stuben. Ich musste dann immer die Sanitäter wecken und den Arzt zur Beglaubigung, musste die Fieberkurven und die Habseligkeiten im Geschäftszimmer abgeben und die Eintragungen in das Stationsbuch machen.
Mein Gott – sie starben so anders! W i e anders! Hatte ich denn gewusst, wie man starb im Krieg! Hatte uns daheim denn einer gesagt, wie das ist hier draußen? Schwarze Druckbuchstaben auf weißen Buchseiten, die Verlustmeldungen in nüchternen Zahlen im Wehrmachtsbericht, die Scheu und Hilflosigkeit beim Anblick einer schwarzgekleideten Frau auf der Straße, – ein paar Zeilen des Kompaniechefs an ein unbekanntes Mädchen: »… er war sofort tot.«
Nichts von der Armseligkeit und Trostlosigkeit auf den Strohsäcken hier in der Düsternis einer grauen russischen Kaserne. Unheroisch und jammervoll und ohne »Glanz und Gloria«.
Walter Flex! ist es wirklich wahr, dass dies hier nicht mehr dazugehört, weil es hässlich ist und so gar nicht heldenhaft – nicht »lichtdurchflutet und stolz«?
Und ich schämte mich. Ich schämte mich, weil ich Angst hatte. Ich hatte mich nie gefürchtet, auch als Kind nicht, im Keller oder in der Dunkelheit. Aber hier hatte ich Angst. Angst vor dem Haus und vor den Nächten. Angst vor dem Röntgenzimmer und den Geräuschen. Angst vor der Dämmerung und der Stunde, in der ich hinübergehen musste.
Und ich schämte mich, weil mir vom Geruch im Zimmer der Bauchschüsse immer noch schlecht wurde, weil ich nur mit größter Willensanstrengung einem Kieferschuss den blutigen Schleim aus dem Rachen wischen und einem Bauchschuss den vom Blut, Eiter und Kot besudelten Strohsack säubern konnte.
Und – ich schämte mich für meine Kriegsbegeisterung und die Abenteuerlust und für den Stolz, mit dem ich verkündet hatte, dass ich jetzt endlich auch »rauskam«, und für meine Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit und die falschen Ideale und … und …
Jetzt war nichts mehr davon da. Jetzt war ich klein und erbärmlich. Und wenn ich mich Stunde um Stunde schlaflos auf meinem Strohsack wälzte, in denen ich die Bilder von der Station nicht loswurde, wenn die Angst vor dem Kommenden mich schüttelte, dann versuchte ich verzweifelt, mich daran zu erinnern, was man uns einmal beigebracht hatte: Pflichtgefühl, Tapferkeit, Härte, Verantwortung …
Verantwortung auch für dieses hier? Ja, auch dafür. Ob ich wollte oder nicht, sie war da, die Verantwortung. Und s i e trieb mich jeden Abend wieder in das große Haus, ließ mich Dinge tun, vor denen mir grauste, und die ich doch nicht tun wollte! Die Verantwortung für die große Zahl hilfloser Menschen, die da lagen auf den brettharten, dünnen Strohsäcken, sich mit den Schmerzen und den Stunden herumschlugen, und die nur darauf warteten, dass sie meinen Schritt kommen und den Schimmer meiner Kerze im Gang aufleuchten sahen. Ihretwegen musste ich hart werden gegen mich selbst, gegen die Angst, die Gedanken und die Gefühle.“
Wenn in Deutschland wieder einmal die „Kriegstüchtigkeit“ hergestellt werden soll, sind Erfahrungsberichte wie der von Elfriede Schade-Bartkowiak von unschätzbarem Wert, um daran zu erinnern, was Krieg bedeutet.
Möge man sich daran erinnern und diesmal „Nein!“ sagen.
(Titelfoto: Grabsteine auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Sandweiler/Luxemburg,
September 2024)
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