Feldpostbriefe: Briefe des deutschen Soldaten Wolfgang Kluge aus Russland, Oktober 1943 (Veröffentlicht am 02.05.2025)
(Quelle: Bähr/Meyer/Orthbandt, Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939 – 1945, S. 286 ff.):
„13. September 1943
Weimar – Russland! Gewiss ist Weimar mir niemals schöner erschienen als in diesem einsamweiten, endlosen Land, wo die Wirklichkeit des Weimarer Geistes fatamorganisch die sternenhellen Nächte beherrscht. Die Sehnsucht deutschen Geistes nach dem Geist wird nie stärker, aber auch nie blutender sein, als in diesem Reich der ewigen Horizonte, wo das Land ist wie das Meer.
Im Einsatz lebt der Mensch nur nach außen hin, von sich fort. So sind es heute nun ganz stille Stunden, obwohl der Lärm ohrenbetäubend ist, in denen ich in die Erinnerung zurückgehe mit den wenigen Bildern, die ich bei mir habe.“
„19. September 1943
Die Stadt wird morgen von der Zivilbevölkerung geräumt. Tag und Nacht ziehen die Wagen die Ausfallstraßen zu viert nebeneinander hindurch. Tag und Nacht greifen Sowjetflieger im Tiefangriff Brücken und Bahnanlagen an.
Die Bevölkerung hielt ihren letzten Gottesdienst ab in der Kathedrale, die vor unserer Besetzung als erstes Kino diente. Selten hat mich etwas so tief ergriffen. Es war in der Zeit der Dämmerung, als das letzte blaue Licht durch die wenigen Kuppelfenster in die Kirchenmitte fiel und den sonst so einfachen Bau verzauberte. Vor allen Heiligenbildern brannte die Ewige Lampe, fern am Altar ein Meer von Kerzen, vor dem aus den rubinroten Weihrauchgefäßen, die geschmückte Knaben schwangen, der Rauch in die Höhe stieg. Ein Priester sang die Litanei; er war anscheinend noch sehr jung, groß, sehr schlank, mit über die Schulter wallendem braunem Haar, in weißem, violett und golden gesticktem Gewand. Die arme, zerlumpte Menge kniete am Boden, fassungslos und weinend, und der Priester kam langsam vom Altar herab und ging, eine Christusgestalt, mitten unter sie und sprach auf sie ein, als Mensch zu Menschen, bis sie ruhig wurden.“
„3. Oktober 1943
Gestern bekam ich den Auftrag, einen russischen Offizier, der seit zwei Tagen im Vorfelde lag, zurückzuholen, weil man ihn vernehmen wollte. Als die Dämmerung heranbrach, nahm ich einen Panjewagen und zwei Mann mit. Wir fuhren bis zu einer Anhöhe, wo wir den Wagen zurücklassen mussten, da der Abhang vom Feinde eingesehen werden konnte. Ich ging mit einem Mann vor, den Russen zu suchen, der in der Nähe eines zerschossenen Panzers liegen sollte. Als wir ihn gefunden hatten, warteten wir die Dunkelheit ab. Dann schickte ich den Mann fort, im Schutze der Nacht den Wagen mit Pferd hierher zu führen. Der Junge, gerade achtzehn Jahre alt, verlief sich aber, und es verging wohl eine Stunde, bis er zurückkam.
Diese Stunde war grausiger als alle Stunden in der Schlacht, da man dort inmitten aller elementaren Furchtbarkeit nicht mehr zur Besinnung kommt. Hier stand ich allein auf dem Felde mit dem verwundeten Russen, auf einem Felde, wo zwei Tage vorher die Schlacht stattgefunden hatte. Rings umher lagen unzählige Tote, die bereits in Verwesung übergegangen waren, noch in ihren Stellungslöchern in schwarzbraunen Äckern. Darüber der ekelhafte süßliche Geruch — darüber der flimmernde Sternenhimmel mit der schmalen Sichel des zunehmenden Mondes — und über allem unheimliches Schweigen. Nur ab und zu das leise Zischen von aufsteigenden Leuchtkugeln, in deren Licht ich das Gesicht des Russen erkennen konnte, der immer meine Füße umfasste und flehend fragte, ob man ihn leben ließe – das eine Stunde lang. Wer es nicht selbst erleben musste, wird es sich nie vorstellen können.
Das ist ein Teilchen aus diesem »Leben« hier, in dem man täglich stirbt und täglich aufersteht.“
„5. Oktober 1943
Wir, die wir auf der Schattenseite des Lebens gehen müssen, wir hängen mehr an der Schönheit des Lebens als die, die sie besitzen – auch heute noch. Und die, die in der Heimat unzufrieden sind, versündigen sich an unserem Leben, denn wie gerne gäbe hier jeder von uns, die wir auf den Tangenten der Welt stehen, seinen Besitz um das Atmen deutscher Luft!
Heute bin ich dankbar, dass ich diese Nacht noch in unserer Lehmhöhle unter der Erde hausen darf, denn wer weiß, ob wir nicht morgen schon wieder den Tag und die Nacht wie das Wild auf dem blanken Boden verbringen und immer im Kampf dazu.
Ich bette mich fest an die Erdbrust
Ich decke mich zu mit der Nacht
Ich ziehe die Sterne bis ans Kinn.“
„9. Oktober 1943
[Letzter Brief an die Mutter]
Noch zwei Stunden werde ich hier sein. Dann gehe ich in die neue Stellung. Vor einigen Stunden begann es leise zu regnen. Die Landschaft wird, nun sie auch die Farben verliert, trostloser als je – braunschwarze Acker, von Panzern zerfurcht, von Schützengräben und Schützenlöchern zerwühlt, in der Ferne ein graugelbes vertrocknetes Sonnenblumenfeld und grauer Himmel, Wolken und Wolken in grau.
Der Sommer geht dahin mit seiner sengenden Hitze, der Herbst kommt mit seinem Schlamm und seiner nassen Kälte, und drohend dahinter steht der Winter.
Einmal hast Du mir Leben und Licht geschenkt – ob Du es noch ein zweites Mal kannst?! Fast erschrecke ich bei solchem Gedanken, aber er ist wahr. Vielleicht spricht man ihn sonst nicht aus – oder nur, wenn einem das Wasser am Halse steht.“
Der Verbleib von Wolfgang Kluge, geboren am 29.05.1918 in Leipzig-Lindenau, ist unklar. Nach den Angaben in dem vorgenannten Buch fiel er im Oktober 1943 „am Dnjepr“; der Volksbund listet ihn hingegen als seit dem 01.10.1943 im Raum Andrijewka Dnjepr vermisst und führt ihn im Gedenkbuch des Friedhofes Charkiw/Ukraine.
(Titelfoto:
Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn/Niederlande, Mai 2023)
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