Episoden des Krieges: „Weihnachten 1945“ von M. Scheibenzuber (Veröffentlicht am 14.11.2025)
Aus: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Weihnachtsgeschichten aus schwerer Zeit (8. Aufl., 2017), S. 75 ff.:
„Da saßen wir in den langen Zeltreihen des Lagers 214 in Grottagglie bei Tarent im Süden Italiens. Ein unbarmherziger Sommer mit großer Hitze und gefürchtetem Sandsturm war vorbei. Kein Brief war zu lesen, auch keiner zu schreiben. Nur die letzten aus den Kriegstagen hatte ich in weiser Voraussicht aufbewahrt und konnte sie schon auswendig. Hunger, Heimweh und Stacheldraht, erdrückende Tage und unendlich sich hinziehende Nächte ohne Schlaf, das war das Los der 50 000. Dem Kalender nach musste der Winter kommen. Wie mochte der wohl aussehen? Regen, nichts als Regen auf die Zweimannzelte, die so niedrig waren, dass man nur kriechen konnte. Beim Sitzen störten die Beine den Nachbarn, kam man mit dem Kopf an die Wand, rann das Wasser unentwegt darnieder. Die Heringe, so nannte man die kleinen Pflöcke, die die Zeltschnüre halten sollten, gaben nach, die Zelte bekamen Schlagseite und fielen um. Das Nachbarlager war mit großen Zelten ausgestattet, die Kameraden sollten es besser haben.
Kameraden – das war fast vergessen, ein harter Kampf um das bisschen Leben hatte längst Bindungen weggefegt.
Mit meinem Kumpan, Sepp mit Namen, vertrug ich mich recht gut. Wir waren auch im Krieg zusammen gewesen, und doch nicht ganz gleich. Während ich die meiste Zeit mit Lernen beschäftigt war, ließ sich der Sepp so weit nicht her. Er war Realist, besorgte Öl bei Nacht, dass unser Heim ein wenig beleuchtet und erwärmt werden konnte. Ich wollte die Gefangenschaft mit Geist ausfüllen, nahm an Dichterlesungen teil, die ein Lichtblick waren für ein gequältes Herz.
Ein großes Zelt stand zur Verfügung, ein Tisch, vielleicht ein Hindenburglichtel, einer las. Ein Häuferl Soldaten saß am Boden und sie hörten hin, um ein wenig zu fliehen, auszureißen von der Masse Mensch, Peter Rosegger oder Marc Twain nahe zu sein. Das Zuhören strengte an, die Lesung dauerte nur ein Stündchen, verlief ohne zusätzliche Worte. Hans Genähr, der Poet des Lagers, löschte, das Licht. Stumm ging jeder seinem Zelt zu und hatte ein wenig Nahrung mit, Nahrung für Herz und Sinn. Ein Ausflug in eine Welt, die nicht Kalorien hieß und Parolen. Kalorien, die wir nur berechneten und nicht bekamen, und Parolen, die irgendwo herkamen und im Nichts verschwanden, um neuen Raum zu geben. Ich hatte Verständnis dafür, dass nicht viele diese Form des Auftankens wählen wollten oder konnten. Es gab genug, die den ganzen Tag am Stacheldraht saßen und Zacken zählten, nie damit fertig wurden. Koller war das, Stacheldrahtkoller, so weit wollte ich nicht kommen.
Und dennoch, auch ich hatte zu tun, der Tücke des Lagers zu begegnen. Zu lang waren die Nächte. Sie bestand aus der Unmöglichkeit, sie mit Schlaf auszufüllen, so blieb es immer nur der Versuch.
Träume um alles, was so weit weg war, schlichen in das Herz, und immer wieder das gleiche, fast utopische Bild der Heimkehr, der heimatlichen Fluren, der Familie, der Freiheit. Diese und ähnliche Gedanken häuften sich natürlich, da Weihnachten vor der Tür stand. Wie würde das werden? Kein verschneites Dorf, kein Hundegebell in der heiligen Nacht von einem einschichtigen Bauernhof. Kein Gang zur Mette. Kein Christbaum. Kein Weihnachtsgebäck. Keine warme Bauernstube. Überall Fehlanzeige. Nur Stacheldraht, Nässe um und um, aufgebrachte Stimmung bei vielen, die Weihnachten am liebsten verwünscht hätten. Hoffnungs- und Trostlosigkeit.
Dann war der Tag da, unterschied sich nur dadurch, dass in der Baracke eine kleine Feier gestaltet wurde, die Weihnachten andeuten sollte. Ein krummer Baum, es mag eine Föhre gewesen sein, ein paar Lichterl waren die ganze Zier, und der Lagerchor brachte einige Weisen. Ein Gedicht von Hans Genähr und die Ansprache des Lagerführers, des deutschen in diesem Falle, waren notwendig. Die Ansprache war für den sonst sicher auftretenden Mann mindestens so anstrengend wie ein gewagtes Frontunter- nehmen, denn zu gespannt war die Atmosphäre, zu gefährlich jedes Wort im Überschwang. Doch beim anschließenden „Stille Nacht“ verließ auch mich die Kraft, Widerstand zu leisten: Ehe ich mich verlor im Singen der zweiten Strophe, hatten sich meine Tränen freien Lauf gemacht, und dabei war ich schon im Verzug. Denn ein Schluchzen ging durch die Reihen, keiner schämte sich vor dem Nachbarn.
Was half da das Eiserne Kreuz, das Verwundetenabzeichen, der Unteroffizier? Es war einfach zu viel, was da einem jungen Bauernbuben zugemutet wurde, ich weinte! Plötzlich hielt mich jemand an der Hand, schlang seinen Arm um meinen Hals und gab mir Kraft, durchzuhalten, bis auch die letzte Strophe zu Ende war. Ein Singen war solches nicht mehr. Ein paar ganz Stabile taten es für all jene, die nicht mehr konnten, weil sie anderes tun mussten.
Weihnachten zu erleben, wohl mit einer großen Zahl gleicher, doch im letzten jeder für sich allein.
Als die Feier so endete, wie sie enden musste, blickte ich mich nach der Seite um, von der ich Hilfe erfahren hatte, und ich sah in ein paar Brillengläser, die im fahlen Licht etwas glänzten. Sie gehörten einem Mann, den ich schon lange kannte. Groß und stattlich auch als Gefangener, fast dreimal so alt wie ich, vornehm und sicher im Auftreten, so kannte ich den Herrn, ich nenne ihn so, nur hatte ich noch nie mit ihm gesprochen, weil es sich halt nicht ergab. Unter den 1.000 Leuten im Einzellager waren viele Gesichter bekannt, nur die Namen nicht. Der Zählappell war die Gelegenheit, alle, fast alle zu Gesicht zu bekommen. Zu einem Gespräch reichte es nicht immer.
Diese Geste am Heiligen Abend verlief ohne Worte. Wir reichten einander die Hand. Ich verneigte mich höflich, um meinen Dank auszudrücken, wir sahen uns an und gingen den Zelten zu. Ich traf den Mann noch oft im Lager, grüßte ihn immer höflich. Und es blieb bei dieser Gepflogenheit, die uns verband. Jedes Wort wäre unnütz gewesen. Dennoch war dieses Erleben eines so einfachen Ereignisses ein eindrucksvolles, das ich nie vergessen werde, das mich alljährlich an einen vornehmen Mann erinnert, der mir in einer entscheidenden Stunde treu zur Seite stand.
Einer aus 50.000 bekundete mir, dass Höhen und Tiefen im menschlichen Leben zu meistern sind, wenn man nicht ganz allein ist. Dafür heute wie damals: Hab Dank, du unbekannter älterer Mann!“
(Titelfoto: Stacheldraht an einer Weide bei Düsseldorf,
Oktober 2022)
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