Gedanken zum Krieg: Viktor Levengarts über seinen 1942 als russischer Soldat gefallenen Vater Lev Michailowitsch Levengarts (Veröffentlicht am 30.05.2025)

Die alten Publikationen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. sind – im wahrsten Sinne des Wortes – wundervoll. Wer mehr über Menschen im und nach dem Krieg, über ihre Erfahrungen, Gedanken und Gefühle erfahren möchte, findet darin eine in einfühlsamen Worten verfasste, um Ausgewogenheit bemühte Quelle, die stets den Menschen in den Mittelpunkt stellt und daran erinnert, was Krieg für ihn bedeutet.

Besonders herauszuheben ist hierbei das Buch „Krieg ist nicht an einem Tag vorbei! – Erlebnisberichte von Mitgliedern, Freunden und Förderern des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. über das Kriegsende 1945“ aus dem Jahr 2005, in dem Krieg, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung in allen Facetten durch diejenigen beschrieben werden, die auf unterschiedlichen Seiten selbst davon betroffen waren – als Männer, Frauen und Kinder. Die Berichte sind eine nachdrückliche Erinnerung daran, dass Krieg unter denen, die ihm ausgesetzt sind, nur Verlierer kennt. In einer Zeit, in der ungeachtet aller Mahnungen der Geschichte auch in Westeuropa wieder massiv aufgerüstet und für Krieg getrommelt wird, kann man hieran nicht oft genug erinnern.

Das Buch enthält auch ein sehr lesenswertes Kapitel über die Erfahrungen, die Viktor Levengarts und seine Familie – sein Vater Lev Michailowitsch fiel als Soldaten der russischen Armee am 28.02.1942 im Kampf gegen die Wehrmacht – im Zweiten Weltkrieg gemacht haben und seine Gedanken über Menschen im Krieg.

Er schreibt (Volksbund, Krieg ist nicht an einem Tag vorbei! [2005], S. 232 ff.):

 

„Das Foto ist schon mehr als sechzig Jahre alt. Es steht hinter Glas im Bücherschrank, gelehnt an farbige Bucheinbände. Zwei junge Menschen: Er und sie. Nach dem Bild zu urteilen ist er sehr stattlich, das Gesicht oval, die Nase über den geschwungenen Lippen länglich und auffallend groß. Lockiges Haar umrahmt in kleinen langen Wellen die hohe Stirn. Ein ruhiger Blick, der unter hellen Augenbrauen hervor scheint, verrät etwas von tiefer Freude. Ein dunkler Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte. Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Ihre schwarzen Augenbrauen sind so dicht, als wären sie gemalt. Dunkles, weiches Haar bedeckt ihren Kopf wie ein kleiner Hut. Ihre großen Augen spiegeln das Gefühl vollkommener Ruhe. Das sind meine Eltern, ein sehr schönes Paar. Meine Mutter ist auf dem Bild kaum 28 Jahre alt, der Vater in einem Monat 31. Mich selbst gab es noch nicht. Jahre später kam der 22. Juni, an dem der Krieg begann. Nach dreizehn Tagen ging mein Vater an die Front zur Volkslandwehr. Gerade hatte er seinen 36. Geburtstag gefeiert.

 

Bescheinigung Nr. 282:
Hiermit wird bestätigt, dass Lev Michailowitsch Levengarts als Soldat in den Reihen der Armee steht – Rotarmist seit dem 5. Juli 1941.
Beglaubigt durch Unterschriften und Stempel.

 

Bilder, Briefe, Postkarten und andere Kleinigkeiten in einem Haus erzeugen das Gefühl, die Menschen, mit denen sie verbunden sind, seien tatsächlich anwesend. Ich höre ihre Stimmen, sehe den Ausdruck ihrer Gesichter, ihre Augen. Ich spreche mit ihnen. Seit einiger Zeit löst diese Bescheinigung dasselbe Gefühl aus. Sie hat längst aufgehört, nur eine Bescheinigung zu sein, ein Blättchen mit Worten darauf. Durch sie ist der Vater immer anwesend. Als er an die Front geht, bin ich dreieinhalb Jahre alt. Man kann sagen, dass ich ihn eigentlich nicht kenne, sieht man von einzelnen Bildfragmenten ab, die aus der zarten Kindheit im Gedächtnis haften geblieben sind und für immer bei uns bleiben. Ja, ich kenne ihn eigentlich nicht. Mit den Jahren, verringert sich dennoch nicht meine Liebe zu ihm. Ich kann ihn nicht vergessen, auch wenn ich mich seiner fast nicht entsinnen kann.

Er war an die Front gegangen. Sein Truppenteil stand bei Leningrad, unweit der Luga. Von dort schrieb er der Mutter, wie schön dieser Fluss sei. Er glaubte, dass der Krieg bald zu Ende sein werde und hoffte, einmal wieder dorthin zu kommen. Er kämpfte nicht lange. Seine Einheit wurde eingekesselt und man lieferte ihn mit vierzehn Splitterverletzungen ins Spital ein. Lange Zeit verbrachte er in einem Dämmerzustand. Dann schien es, dass sein Zustand sich bessere, obwohl er seine Arme noch nicht benutzen konnte. Schließlich kam einer der größten Feiertage – der 7. November, der Revolutionsfeiertag. Vielleicht wussten die Mitarbeiter des Spitals, dass mein Vater vor dem Krieg Literaturlehrer war und schenkten ihm deswegen einen Band der Gesamtwerke von Lermontow. Dieses Buch steht ebenfalls im Bücherschrank. Es ist nicht mehr nur eine Gedichtsammlung des Lieblingsdichters meines Vaters, sondern ein Stück seines Lebens. Ein Fenster in seine Zeit. Man schrieb den Winter 1941/42, als meine Mutter eine Mitteilung aus dem Spital bekam:

 

Ihr Gatte, der Rotarmist Lev Michailowitsch Levengarts, gebürtig in der Stadt Jakutsk, wurde, dem Militärschwur treu, unter Beweis von Mut und Heldentum, im Kampf für die sozialistische Heimat schwer verwundet und starb am 28. Februar 1942.

 

Wenig später begann der Frühling. Wäre der Frühling eher gekommen, so scheint es mir heute, wäre Vater möglicherweise erleichterter gegangen. Er starb, indem er uns verteidigte. Aber er starb nicht im Krieg mit dem deutschen Volk, mit Deutschland, sondern im Krieg gegen eine satanische Maschinerie des Bösen.

Vor kurzem war ich auf einer Dienstreise in Deutschland. Obwohl 50 Jahre vergangen sind, hatte ich Angst, eine innere Erbitterung, eine Feindseligkeit in diesem Lande empfinden zu müssen, wo, wie es mir schien, noch heute der Geist der Vergangenheit schwebt. Schließlich reiste ich in ein Land, von dem aus der Krieg zu uns kam, zu dessen Opfern auch mein Vater zählte. Die Firma, zu der ich entsandt worden war, befand sich in Bocholt. Ich selbst wohnte in Borken, einem kleinen Städtchen im Nordwesten Deutschlands an der Grenze zu Holland. In meiner knapp bemessenen Freizeit schlenderte ich durch die Straßen dieses Städtchens, besuchte Geschäfte, Cafés, las die Schilder, beobachtete Passanten, hörte aufmerksam ihren Gesprächen zu und versuchte sie zu verstehen. Ich lächelte ihnen zu. Sie sahen mich an und lächelten zurück.

Wer sind sie? Franzosen, Engländer, Italiener? Aber nein, das sind Deutsche, schließlich bin ich in Deutschland. Aber wodurch unterscheiden sie sich von den Franzosen, Engländern, Italienern? Wahrscheinlich unterscheiden sie sich kaum. Die einen wie die anderen sind Blumen, die auf einer Wiese wachsen – Kamillen, Glockenblumen, Kornblumen, Veilchen. Unter der Erde verflechten sich ihre Wurzeln. Sie sind Teil eines von der Natur gewebten Teppichs. Pflückte man eine Kamille, verbliche das ganze Muster, verlöre seinen Glanz, bliebe nicht vollständig. Es würde etwas fehlen.

In den Regalen meiner Hausbibliothek stehen nebeneinander die Bücher von Heine, Goethe, den Brüdern Mann, Böll, daneben Puschkin, Lermontow, Block, Bunin und die Schallplatten von Glinka, Musorgskij, Tschaikowsky stehen neben denen von Bach, Beethoven, Schumann. In meinem Album sind die Fotos von Klaus Treptow und Manfred Claus zu sehen. Mit ihnen habe ich an der Hochschule studiert.

Der Vater ging an die Front, nicht um zu erobern, sondern um zu verteidigen. Er kam ums Leben, als ich vier Jahre alt war. Fotos, Bescheinigungen, Benachrichtigungen – früher waren sie für mich nur eine Erinnerung, eine Art Zeichen, das man nicht vergessen dürfte. Heute hingegen beleben sie das Haus und stellen die Verbindung her zwischen mir und den Menschen, an die sie erinnern. Sie haben einen unbezahlbaren Wert.“

 

 

(Titelfoto: Gedenktafel für getötete Russen
auf dem Soldatenfriedhof Bensheim-Auerbach,
April 2022)

 

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