Tagebücher aus dem Krieg: Ein 15-Jähriger deutscher Junge beschreibt seine Verschonung durch US-Tiefflieger im März 1945 (Veröffentlicht am 07.10.2025)
Mit Eroberung der Lufthoheit über dem Deutschen Reich gingen die Alliierten dazu über, ihre Luftwaffen Tiefflugangriffe selbst gegen Einzelpersonen auf den Straßen und Feldern durchführen zu lassen. Die US-Luftwaffe setze hierfür z. B. Jagdbomber, kurz „Jabos“ genannt, der Typen P-38 „Lightning“, P-47 „Thunderbolt“ oder P-51 „Mustang“ ein.
Der damals 15-jährige Rudi Brill, seinerzeit Angehöriger der „Hitler-Jugend“, beschrieb ein Erlebnis mit solchen Tieffliegern, die von einem Angriff absahen, in seinem „Tagebuch 1944/45“, S. 92 ff., wie folgt:
„3. März 1945.
Mit unendlichem Dank kann ich heute Abend den Psalm 35 lesen, der dran ist. Dass ich ihn noch lesen kann, verdanke ich der Gnade Gottes, die uns noch einmal weiterleben ließ. Wie passen die Verse 3—9 auf das, was wir heute erlebt haben: »Aber meine Seele müsse sich freuen des Herrn und sei fröhlich über seine Hilfe.« Was wir durchgemacht haben, ist mit Worten kaum wiederzugeben.
Wie üblich marschierten wir zu unserer Baustelle auf der Höhe 393 zwischen Fürth und Lautenbach. Oben auf dem Berg stapften wir über ein weites Stück freies Land. Plötzlich, wie immer, tauchten ein paar Jabos auf, hinter einem Wald hervor und beschossen unten im Tal ein Auto. Da waren sie auch schon über uns und hatten uns entdeckt.
»Volle Deckung!« schrie Itze. Das war gut gebrüllt: Deckung gab es hier keine. Kein Baum, kein Strauch, kein Graben, kein Loch in der Nähe. Wir warfen uns platt auf den Boden.
Die vier Flugzeuge stießen tiefer und umkreisten uns. Wir wussten, dass sie auf einzelne Leute, auf Zivilisten, ja sogar auf Frauen, auf Bauern auf dem Felde schossen. Und wir lagen da wie auf dem Präsentierteller, wie auf einer Schießscheibe. Kaum war der eine vorbei, war schon der nächste da. Einer flog so niedrig, dass wir das Gesicht des Piloten erkennen konnten, der seitlich aus dem Kabinenfenster auf uns schaute.
Bei jedem der anflog, glaubten wir »jetzt schießt er« und drückten uns an die kalte Erde. 30 Jungen auf einem Haufen über wenige Quadratmeter nebeneinander kreuz und quer. Wenn das kein lohnendes Ziel war!
Plötzlich ging eine der Thunderbolts [P-47 Thunderbolt] noch tiefer und stieß direkt auf uns zu. Es war wirklich ein »Donnervogel«. Fürchterlich das Dröhnen des Motors. Wir krallten uns noch fester an den Boden. Ein Mausloch zum Verkriechen!!! Einer schrie, dass es das Donnern übertönte: »Jetzt ist es aus!« Wir glaubten alle, dass es jetzt aus sei. Eine MG- oder Bordkanonengarbe, eine kleine Bombe in unsere dichte Masse — da wäre keiner davongekommen. Und mit 15 will man ja nicht sterben!
Ein Stoßgebet, verzweifelt, innig wie noch nie ging mir durchs Herz: »Lieber Gott, hilf uns!« Oder ähnlich, ich weiß es nicht mehr.
Eine unbeschreibliche, nie vorher gekannte Ruhe kam über mich. Ich fühlte es fast körperlich: Gott hält jetzt seine Hand über uns. Es kann uns nichts passieren, als was er will.
Tausend Gedanken schossen mir in diesen Sekunden, die ich für unsere letzten halten musste, durch den Kopf. Jetzt muss er schießen, jetzt, jetzt! Er dröhnte über uns hinweg, war vorbei, hatte nicht geschossen. Jaulend zog die Maschine hoch und die nächste flog vorbei. Halb betäubt vom Lärm staunten wir, dass wir noch da waren.
Wir hoben die Köpfe von der Erde. Noch ein paarmal umkreisten sie uns, jetzt höher. Sie waren sich wohl nicht schlüssig. Was sie sich wohl im Sprechfunk sagten?
Als die Flugzeuge für einen Augenblick die Kurve etwas größer nahmen und ein Stück weiter weg waren, taumelten wir noch halb betäubt hoch, rasten den Berg hinunter, dem Laufgraben zu. Wir rannten, wie uns noch nie ein Führer zum Laufen gebracht hatte, wir rannten um unser Leben, erreichten den Graben und ließen uns hineinfallen, einer über den andern.
»Es zittern die morschen Knochen«, haben wir oft gesungen. Wir haben zwar keine morschen Knochen, aber unsere zitterten noch lange. Unsere Gesichter strahlten, wir fielen uns um den Hals: »Mensch, nochmal davongekommen, Menschenskind!« Ein Dankgebet wie noch nie, stieg aus meinem zerspringenwollenden Herzen empor. Die Welt war neu für uns, das Leben begann noch einmal. Da waren Bäume, Sträucher, Gras, Erde, Erde, die man fassen und durch die Finger rieseln lassen konnte. Alles war wieder da, wir waren noch da! So etwas ist mit diesen dürren Worten nicht zu beschreiben. Sowas kann man erleben, aber nicht wiedergeben.
Aus sicherer Deckung schauten wir jetzt schon wieder etwas übermütig zu, wie die Jabos noch eine Weile kreisten.
»Warum sie nicht geschossen haben?« fragten wir uns.
»Die werden uns in unseren graugrünen Drillichen für Kriegsgefangene gehalten haben,« vermutete einer.
Dies war gewiss eine plausible Erklärung. Für mich aber war es klar: Einer, der die Macht dazu hat, hatte die Hände des Piloten am Abzug der Bordwaffen festgehalten, damit er nicht schießen konnte.
Als die Maschinen endgültig verschwunden waren, liefen wir, diesmal ausgesprochen gemütlich, ja genüsslich, wenn auch mit noch weichen Knien den Berg hinauf zu der Stelle, an der unser Leben beinahe geendet hätte. Wir sammelten unsere verstreut liegenden Werkzeuge ein und gingen an die Arbeit. Den ganzen Morgen über war das Geschehene unser Gesprächsthema.
Mit welchen Gefühlen ich das jetzt, 12 Stunden danach, schreibe, kann ich nicht ausdrücken. Aber was ich gewiss tun werde, ist heute und alle Tage die mein Leben noch zählen wird, dankbar sein für jeden neuen Tag und für das noch einmal geschenkte Leben.“
(Titelfoto: Grabstein eines 16-jährigen deutschen Soldaten
auf dem Soldatenfriedhof Brandau/Odenwald,
August 2025)
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