Tagebücher aus dem Krieg: Gedanken des belgischen Schriftstellers Kamiel van Baelen über die Zyklen menschlicher Widersprüche (Veröffentlicht am 07.11.2025)
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in seine nordbelgische Heimatstadt Turnhout zurückgekehrt, beteiligte sich Kamiel van Baelen nach Eroberung Belgiens durch die deutschen Truppen im Mai 1940 am Widerstand. Er starb kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Dachau.
Er schrieb kurz vor Beginn des deutschen Angriffs (Quelle: Bähr, Die Stimme des Menschen – Briefe und Aufzeichnungen aus der ganzen Welt 1939 – 1945 (1961), S. 24 f.):
„Mai 1940 [In Belgien]
Es ist heute Feiertag. Noch nie ist der Mai so schön gewesen mit jungem Grün und leuchtenden Blüten. In zwei Tagen werden wir zum Heiligen Geist beten, dass er in unsere geteilten Herzen komme und das Angesicht der Welt ändere. Werden wir das tun? Ach, heute Nacht ist etwas geschehen…
Ich habe die Stadt und die geschwätzigen Menschen hinter mir gelassen. Dieses Ereignis hat mich still und ernst gemacht. Ich muss nachdenken und die schönen Erinnerungen an meine Jugend zählen. Ich muss sie irgendwo sicher bergen, bombensicher… Nein, nicht daran denken: Schau, wie schön die Obstgärten mit violetten und weißen Blüten geschmückt sind. Jede Knospe wurde von der Sonne geküsst, Bräute eines Tages und aufbrechende Knospen… Ich setze mich an den Wegrand, kehre den vorbeigehenden Menschen den Rücken zu und nehme einen Grashalm in den Mund. Er schmeckt bitter und frisch.
Dann gehe ich weiter und vertiefe mich in allgemeine Betrachtungen. Ich denke zum Beispiel: Zuerst geben die Menschen Millionen aus, um ein paar Leben zu retten; dann werfen sie Milliarden aus, um zielbewusst so viele Leben wie nur möglich zu vernichten; sie schöpfen aus dem grauen Schacht der Phrasen, nachdem sie den menschlichen Vorrat an Tiefsinnigkeit für ein paar Jahrhunderte ausgeschöpft haben. Meine Füße bekommen Blasen, und meine Gedanken stumpfen ab. Das war vielleicht die unbewusste Absicht meines langen Umherirrens. Aber wenn das Tier müde wird, begibt es sich wieder in den Stall. Plötzlich bemerke ich Arbeiterwohnungen in dieser ländlichen Gegend: Kompromiss zwischen Land und Stadt. Hier will ich noch einen Augenblick rasten und meinen ganzen Mut zusammennehmen, um wieder unter die Menschen zu treten, die in ihrer Erregung fürwahr auch ein wenig die Genugtuung verbergen, dass endlich einmal etwas geschieht.
Keine zehn Meter von mir entfernt steht auf einem engen Hof hinter dem ersten Reihenhaus ein kleines Mädchen und bläst eifrig Seifenblasen in die Luft. Die Wangen sind rund, die Augen groß vor Erwartung. Schaukelnd löst sich die schillernde Blase von der Tonpfeife. Einen Augenblick scheint es, die Seifenblase überlege noch, ob sie den Sprung wagen solle, und deutlich sehe ich die runden Fenster und Häuser in ihr gespiegelt… alles ist so sauber und kristallhell, alles erscheint in Miniatur, Stadt und Land – und die Ausmaße sind weder klein noch eng. Ich habe den sehnlichen Wunsch, auch dieses Ungeheuer von Welt möge aufsteigen, hoch und rein, bis zu jenen Höhen, in denen Gott wohnt, um dort Zeugnis abzulegen, dass alles gar nicht so schlecht ist, wie es ist.
Plötzlich ein Brummen, Heulen, Dröhnen, als berste die Erde. Die Seifenblase platzt, rettungslos verloren, die Tonpfeife fällt in Scherben, und das Mädchen läuft erschrocken ins Haus: Angriff der ersten Sturzkampfflieger!“
Kamiel van Baelen, geboren am 15.08.1915 in Turnhout/Belgien, gestorben am 16.04.1945 im Lager Dachau bei München.
(Titelfoto: Grab des belgischen Staatsangehörigen Georges Doyen
auf dem Soldatenfriedhof Brandau/Odenwald, August 2025)
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