Gedanken zum Krieg: „Jugend unterm Schicksal“ – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (Werner D.) (Veröffentlicht am 18.05.2025)
Im Jahr 1950 veröffentlichte der Christian Wegner Verlag in Hamburg unter dem Titel „Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949“, herausgegeben von Kurt Haß, eine Sammlung von Auszügen aus Lebensläufen, die deutsche Jugendliche mit ihrer Meldung zum Abitur in den besagten Jahren einreichten. Darin beschreiben sie jeweils ihre individuellen Erfahrungen mit der NS-Zeit, dem Krieg und den Nachkriegswirren und die Schlüsse, die sie hieraus für sich und ihre Zukunft gezogen haben. Entstanden ist eine eindrückliche Dokumentation der damaligen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aus jugendlicher Sicht, die zwischen den Zeilen nicht selten mehr erkennen lässt als die meist eher neutrale Sprache ausdrückt und die unverändert lesenswert ist, wenn es einmal mehr darum geht, den Anfängen von Totalitarismus und Krieg zu wehren.
Werner D., damals 19 Jahre alt, beschreibt seine Erfahrungen wie folgt (aus Kurt Haß, Jugend unterm Schicksal – Lebensberichte junger Deutscher 1946 bis 1949 (1950), S. 33 ff.):
„… Abmarsch zur Front! Front? Wo war sie? Am Rhein stand der Feind im deutschen Land. In Deutschlands tiefster Erniedrigung sollte ich mein junges Leben für eine Idee einsetzen, deren Inhalt meinem Wesen völlig fremd war und dessen fanatische ‚Vorkämpfer‘ mich anekelten. Ich tat meine Pflicht, ja mehr noch: ich tat etwas, das ich verachtete und selbst in meinem inneren Wesen nicht verantworten konnte. Ich setzte mich für das ein, wovor ich heute nur tiefsten Abscheu empfinden kann. Mit eigenen Augen sah ich nun den Wahnsinn, den ich vorher nur vom Hörensagen kannte. Die Verwahrlosung griff den Soldaten wie die schleichende Pest an. Schwache, entwurzelte Offiziere, vom Wohlleben in Frankreich verweichlicht, nahmen mir den letzten Glauben, wenn ich so etwas jemals für diese Sache aufbringen konnte. Jammer und Elend auf allen Straßen: Tote, Zerfetzte, Verwundete, verweste Kadaver, Ruinen, Schutt, Trümmer und Brandgeruch. Alles das vereinigt zu einem Bild, das war das ‚Feld der Ehre‘. Mein junges Gemüt zerbrach an diesem Anblick; heute noch sehe ich diese Bilder des Schreckens vor meinen Augen, unauslöschbare Mahnbilder für ehe Zukunft.
Junges Blut rann in Strömen, das beste und teuerste Menschengut Deutschlands siechte dahin, von verantwortungslosen Kreaturen als Kanonenfutter in den Tod getrieben. Altere Soldaten erkannten die hoffnungslose Lage und handelten entsprechend: sie liefen über oder desertierten nach ihrer Heimat. Ich sah wohl das Sinnlose des Kampfes ein; jedoch fehlte mir der Mut, es gegenüber andersdenkenden Kameraden laut werden zu lassen, da man mich als Feigling an den Pranger gestellt hätte. Ich war kein denkender Mensch mehr; ich wurde mit der Zeit zu einer Maschine, die alles stumpf über sich ergehen ließ. Befehl hieß Befehl, und der lautete: Kampf bis zum letzten Blutstropfen, alles für Deutschland und unseren ‚Führer‘!
Und wie stand es mit der Kameradschaft? Ich kann nur sagen: nichts hasse ich mehr als dieses leere Wort. Was heißt denn überhaupt Kameradschaft oder noch tönender: Frontgemeinschaft? Jeder versuchte den anderen zu hintergehen. In Gefahren stand man auf sich gestellt. Niemand half dem Bedürftigen; um das eigene Leben zu retten, stieg man über die Leichen seiner Kameraden. Es mag natürlich in anderen Fällen anders gewesen sein! Jedoch der ältere ‚Kamerad‘ gab uns das beste Beispiel: nur auf seinen Vorteil bedacht, ließ er jede Rücksicht außer acht, nur um sein schäbiges Leben in Sicherheit zu bringen. Was schadete es, dass wir unerfahrenen, jungen Soldaten blindlings in den Tod rannten! Nur vereinzelt erlebte ich Fälle, in denen die Kameradschaft, die Hilfsbereitschaft auch in der höchsten Gefahr den Menschen höher stand als das eigene Ich. Aber diese leuchtenden Fälle versanken im Sumpf der Niederträchtigkeiten.
Grauenvoll wurden mir die Augen aufgerissen, als der Tod seine ersten Opfer bei meinen Kameraden holte. Eine unheimliche, schwere Last drückte auf meinem Herzen. Den ‚Tod‘ sah ich in den nächtlichen Halbträumen mit ausgebreiteten Armen vor mir stehen, um mich zu umkrallen und nicht mehr loszulassen. Ein fürchterliches Erwachen folgte jedesmal, und mit gequältem Herzen sah ich dem neuen Tag entgegen, der mir bereits das Geträumte bringen konnte. Hilflos, wie ich in dieser Zeit war, suchte ich nach irgendeinem inneren Halt. Ich fand ihn in der zerstörenden Wirkung des Alkohols. Mit Hilfe dieses betäubenden und teuflischen Getränks kam ich über die grässlichsten Stunden hinweg. Der Fronthumor existierte in der Sphäre der allgemeinen seelischen Zerrüttung nicht mehr. Auch der Alkohol genügte später nicht mehr, mich über die auf mich einstürzenden Eindrücke hinwegzubringen.
Deutsche Erde wurde aufgewühlt und mit Blut durchtränkt. In einem rasenden Trommelfeuer bei I. wünschte ich mir den Tod. Schrille Schmerzensschreie getroffener Kameraden schnitten mir tief ins Herz. Ich wagte mich nicht zu rühren, der Atem stockte; jeder Augenblick konnte mir den Tod bringen. Aber er kam nicht. E r marterte mich furchtbar in der bangen Erwartung meines Schicksals. Ich lernte, an Gott zu glauben und zu beten mit solcher Inbrunst, die ich früher bei mir nicht für möglich gehalten hätte. Meine Schicksalsstunde sollte aber noch nicht geschlagen haben. Es war mir vergönnt, wieder das Leben der Jugend in vollen Zügen zu genießen.
Als lastendes Unheil kam dann die Gefangenschaft über mich. Drohend Zog sich das Unwetter über mir zusammen. Vollkommen deprimiert und meinem Schicksal ergeben wankte ich in das Heer der entwaffneten grauen Masse. Moralisch vernichtet stolperte ich mit Leidensgefährten unter Bewachung mit erhobenen Händen durch die Gassen einer mitteldeutschen Stadt. Schamröte stieg mir ins Gesicht, als ich in diesem jämmerlichen Zustand – ich war obendrein mit Pferdeblut bespritzt – unter den Augen der deutschen Zivilbevölkerung diesen Leidensgang antreten musste. In den nächsten Tagen wechselte die Scham über diese niederschmetternden Ereignisse mit einem wohligen Gefühl des Geborgenseins. Ich war gleich anderen Kameraden der Hölle entronnen.
Aber trostlose Leere stieg in mir auf, als ich in das von Stacheldraht umzäunte Lager unter den Schmährufen der Belgier einzog. Diese armseligen Menschen sahen in uns die Teufel, die Verbrechen über Verbrechen an ihrem Volk begangen hatten. Das Schuldgefühl, auf meine schwachen Schultern gewälzt, erdrückte mich nahezu. Hinzu kamen Schikane und Drangsalierungen durch die Kameraden, die, wenn sie älter waren, glaubten, uns betrügen zu können und immer wieder versuchten, ihren Willen uns aufzuzwingen. Alle Schuld wälzten sie von sich, sie wuschen ihre Hände in Unschuld und hetzten auf die ‚verderbte‘ Jugend, wo sie nur die Gelegenheit dazu fanden. Anstatt uns Jüngeren mit gutem Beispiel voranzugehen und uns den inneren Halt zu geben, den wir doch so dringend benötigten, versuchte man uns Junge auszunutzen und in jeder Weise schlechtzumachen. Hier galt: ‚Das Recht hat der Stärkere‘. Moralisch und charakterlich waren sie Schwächlinge, zu Hinterlist und Gewalt waren sie aber immer stark genug. Mein Hass auf die gesamte Menschheit verstärkte sich von Tag zu Tag.
Durch das schlechte Beispiel beeinflusst, glaubte auch ich nur leben zu können, wenn ich meine Kameraden betrog. Ich tat diese Schändlichkeit, ja noch mehr: ich tat sie, obwohl ich mir meiner schlechten Charakteräußerung bewusst war. Genugtuung erfüllte mich, wenn andere ohne Grund leiden mussten, es mir aber gut ging. Ich war zu der Bestie geworden, die sich über die Worte ‚Moral‘ und ‚Ehrlichkeit‘ hinwegsetzte und das Höchste im Wohlergehen des eigenen Ichs sah. Kameraden gab es nicht mehr, es existierten nur noch Feinde, die mich betrügen wollten und denen zuvorzukommen ich mir als größten Erfolg anrechnete. Wie Raubtiere stürzten wir uns auf das karge Essen, um möglichst viel zu erhaschen, um ja nicht dem Kameraden, der zur Seite schlief, etwas zukommen zu lassen.
Es gab wenig zu essen, und Obst und Gemüse sahen wir selten. Gier bemächtigte sich aller, wenn etwas von diesen begehrten Früchten ins Lager kam. Prügeleien entstanden; keiner gönnte dem anderen etwas; die Jüngeren und Schwächeren wurden achtlos zur Seite gestoßen. Maßlose Empörung überkam mich: was ich nicht mit Gewalt erreichen konnte, versuchte ich mit Betrug und List zu erstreben. Wie weit sank ich? Wo waren hier die Menschenrechte geblieben? Wer vertrat sie? Der vernünftige, rücksichtsvolle Mensch versank im Pfuhl der Scheußlichkeit. Das Wort ‚Menschlichkeit‘ – beißender Hohn – wurde mit Füßen getreten. Alte Männer, Familienväter, die Söhne in unserem Alter hatten, wurden zu reißenden Bestien. Junge, anständige Menschen ließen sich zu Kameradendiebstählen hinreißen.
Die einzige Entschuldigung, die ich für die Allgemeinheit anführe – es soll keine Rechtfertigung der begangenen Taten sein –, ist, dass die ersehnte Heimreise immer wieder hinausgezögert wurde. Bis dahin noch anständige Menschen – es gab deren sehr wenige – verzweifelten an ihrem Geschick. Keine Nachricht aus Deutschland über unsere Angehörigen. ‚Leben sie noch?‘ war die ewig bange Frage. ‚Oder waren sie im Toben der entfesselten Gewalten versunken?‘ Wir wussten nichts über das grässliche Ende des Krieges. Krank an Körper und Seele, Ungewissheit im Herzen, so siechte ich dahin. Begangene Untaten erschütterten die Seele. In Bitten an Gott um Vergebung brach die Anständigkeit wieder durch. Doch das Gefühl der Reue brachte mir schlaflose Nächte, und wie oft habe ich in diesen Stunden bittere Tränen geweint! Es war meine große innere Reinigung. Jedoch der Hass gegen die Menschen blieb, ihn konnte nichts aus meiner Seele herausreißen. Ich erkenne jeden Menschen an, aber mehr auch nicht. Das Leid vieler Tausender konnte mich nicht mehr erschüttern. Ein Egoist im weitesten Sinne des Wortes ist aus mir geworden. Bin ich schuldig zu sprechen? Ein glattes menschenverachtendes ‚Nein‘ ist meine Antwort. Die Menschen, auf die ich baute – alte und junge, kluge und einfältige –, haben den Glauben an die Anständigkeit in mir erschüttert.
Einmal winkte auch für mich der Tag der Freiheit. Ich verließ die dumpfe Atmosphäre des Lagers. Ich atmete die Freiheit wie ein neugeborenes Kind. Wiesen und Felder, Städte und Dörfer, Berge und Täler waren Balsam auf meine blutenden Wunden. Die Menschen wurden wieder anders. Hier und da ein Scherzwort, frohes Plaudern hub an. Ja, waren das die Bestien, mit denen ich im Lager zusammengesessen hatte? Der Charakter jedes einzelnen, der sich im vergangenen halben Jahr so offen und unverblümt gezeigt hatte, wurde jetzt mit dem Deckmantel der Humanität, der Lauterkeit und nicht zuletzt auch mit der Freude verdeckt. Die Bestie des Menschen setzte ihre Tarnkappe auf. Doch wie leicht scheint es mir heute möglich, jedem Menschen, und wenn er noch ein so guter Schauspieler ist, diese Maske vom Gesicht zu reißen und seinen wahren Charakter zu erkennen! Wie hasse ich diese Menschen, die mir schmeicheln, die mir ihre scheinbar gute Meinung von mir zu verstehen geben! Sie sind doch in Wahrheit verkappte und gekaufte Figuren der ungezügelten Niederträchtigkeit.
Ich habe nur ein Ideal, und das lautet: ‚Ich‘ und alles, was damit verbunden ist, meine Arbeit, meine Gesundheit und nicht zuletzt auch Freude, die aus dem Vorhergehenden ganz natürlich sich entwickelt. Die Scheu vor den Menschen ist noch nicht von mir gewichen und wird auch niemals ganz aus meinem Herzen zu streichen sein. Zu Schreckliches habe ich erlebt, als dass ich einfach darüber hinweggehen könnte. Die Menschen sind mir fremd – ich will nicht sagen: unausstehlich – geworden. Die Gemeinschaft hat bei mir den Sinn verloren, da ich heute den Menschen nur nach seiner Schlechtigkeit beurteile.
Ich gehe nach der Ansicht Machiavellis davon aus, dass alle Menschen böse sind und stets ihrer bösen Gemütsart folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Bleibt diese Bosheit eine Weile verborgen, so rührt das von einer verborgenen Ursache her, die meistens nicht eher erkannt wird, als bis die Bosheit zum Ausdruck kommt. Dann enthüllt sie die Zeit, die man die Mutter der Wahrheit nennt. Die Menschen tun nur aus der Notlage heraus etwas Gutes. Sobald aber die Not gebunden ist, tun und lassen sie, was ihnen beliebt, und sehen den Unterschied zwischen Schlechtem und Gutem nicht mehr. Ich möchte fast sagen, dass ich es als notwendiges Übel auffasse, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Ich suche heute stärker denn je die Einsamkeit und das stille Arbeiten. Es kommen aber dann wieder Tage, an denen ich ohne Mitmenschen nicht auskomme; ich suche dann die Gesellschaft, um mich danach aber desto schärfer wieder von ihr abzuwenden.“
Das machtvollste Mittel gegen die Wiederholung der Geschichte sind Erinnerung und Gedenken.
(Titelfoto: Stacheldraht auf einem Weidezaun,
Dezember 2023)
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