Menschlichkeit im Krieg: Charlotte Gaede und die Pflege kranker ausländischer Zwangsarbeiter nach Ende des Zweiten Weltkriegs (Veröffentlicht am 12.07.2025)

Charlotte Gaede, geb. 1914, berichtet über ihre Erlebnisse im Herbst 1945 bei der Pflege kranker junger Ausländer in einem Barackenlager in Vorpommern (Quelle: Dollinger, „Kain, wo ist Dein Bruder? Was der Mensch im Zweiten Weltkrieg erleiden musste – dokumentiert in Tagebüchern und Briefen“ (1983), S. 388 ff.):

 

„Es war kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Ich war nach langer Krankheit zur Genesung in meiner Heimatstadt in Vorpommern. Eines Tages erhielt ich den Auftrag, die Pflege der Kranken im Barackenlager zu übernehmen. Es handelte sich um junge Ausländer, die von den deutschen Behörden zu Hilfsdiensten ‚freiwillig‘ nach Deutschland gebracht worden waren. Ihre gesünderen Kameraden waren kurz vor dem Zusammenbruch in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Diese Kranken waren dazu nicht fähig gewesen…

Ich öffnete die Tür – und prallte entsetzt zurück. Ein Ekel erfasste mich wie noch nie in meinem Leben. Nein, keinen Schritt weiter! Was ich sah, war unbeschreiblich, und fauliger Verwesungsgeruch nahm mir fast den Atem. Ich sah einen Tisch mit verdorbenen, verschmutzten Lebensmitteln, wimmelnd von Fliegen und Maden, übereinandergestellte Holzbetten mit durchnässten Strohsäcken und verdreckten Decken, dazwischen überlaufende Eimer mit den Exkrementen der Kranken. Aus den Betten starrten mich aus wächsernen, ausgedörrten Gesichtern große, weit aufgerissene Augen an. Und diese Augen waren es, die mich schließlich vor diesem Grauen doch nicht davonlaufen ließen. Sie brannten sich mir bis auf den Grund meiner Seele. Aus diesen Augen sprach Angst, Misstrauen, Gleichgültigkeit, ja Hass, alles zusammen. Und dahinter spürbar das Wissen um den nahen Tod, einen einsamen, bitteren Tod fern aller Liebe und Güte…

Ich nähere mich einer dieser Jammergestalten, die von einem entsetzlichen Husten gequält wird. Ich blicke in ein Paar großer blauer Augen voller Entsetzen. Die Lippen zucken, wollen Worte formen, aber es wird nur ein Stöhnen daraus. Ich wische Schweiß und Tränen von dem zuckenden Antlitz. Da greift eine feuchte, kalte Hand nach meinem Arm, klammert sich fest, als sei er ein Rettungsanker. Und da steigt es in mir hoch, ich sehe nur noch die Qual dieser Menschen. Ich nehme mein Herz in beide Hände, mir erwächst die Kraft, täglich den Ekel zu überwinden. Ich kümmere mich um die Kranken, sorge für ihre Sauberkeit, für regelmäßiges Essen, für Linderung der Schmerzen. In Abständen erscheint ein Arzt, aber Hilfe ist bei den meisten Fällen von fortgeschrittener Tuberkulose nicht mehr möglich…

Nach einiger Zeit war es doch, als fühlten sie mein Helfenwollen. Es leuchtete etwas wie Dank in ihren Augen, wenn ich morgens an ihre Betten trat. Meine Sprache verstanden sie nicht und ich bei den wenigsten die ihre. Aber ich sehe sie alle deutlich vor mir, die bleichen, leidvollen und doch noch so jungen Gesichter: Robert, Pierre und Romain aus Frankreich; die liebliche Germaine, die ihnen wie Mutter und Schwester zugleich war und ihnen kleine Handreichungen machte. Sie verehrten sie fast wie eine Heilige. Sie waren bei aller Armut und Not noch reich, da sie miteinander reden konnten. Viel elender waren die anderen aus den verschiedenen östlichen Ländern, weil sie sich nicht mitteilen konnten. Germaine war die einzige, die ihre Heimat wiedersah. Als sie fort war, verkümmerten sie wie Pflanzen ohne Licht…

Die einsamste und erschütterndste Gestalt war Peter, ein blutjunger Ukrainer, kaum dem Knabenalter entwachsen. Sein Passbild zeigte ihn als stämmigen Burschen im weißen Russenhemd mit Stickereien, übermütig in die Welt schauend. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er einst auf einem Pferd über die Fluren seiner Heimat trabte. Und jetzt: abgezehrte Züge, von der Nase zu den Mundwinkeln zwei tiefe Falten, die Lippen zusammengepresst zu einem schmalen Strich. In den Augen unergründliche Trauer, Bitternis und Menschenverachtung… Eines Morgens fand ich Peter mit hochroten Wangen und stoßendem Atem, mit kaltem Schweiß bedeckt. Der Puls flatterte, die Augen glänzten übernatürlich. Ich wusste, das Ende war nahe. Peter würde den Tag kaum überleben. Herrisch sahen seine Augen mich an und schienen etwas zu fordern. Die Hand deutete auf die Sonnenstrahlen, die zur offenen Tür hereinflimmerten. Plötzlich begriff ich. Er wollte noch einmal hinaus in die Sonne. Ich erschrak, das könnte sein Tod sein. Ich fragte mich, ob er denn auch sonst nicht sterben müsste, früher oder später? Dann schüttelte ich den Kopf. Welche Trauer in seinem Blick! Aber dann richtete er sich doch langsam auf, ganz gesammelte Kraft, gespannter Wille. Da helfe ich ihm, schleppe ihn zur Tür. Er steht in der Sonne, lächelt selig und trinkt die Sonne in sich hinein. Ich empfinde eine große Zärtlichkeit für ihn. Tränen steigen mir in die Augen. Ich halte fest den mageren, wankenden Körper und geleite ihn zurück. Erschöpft, nach Atem ringend, lässt er sich fallen und schließt die Augen. Sein Gesicht entspannt sich. Er schläft. Ich streiche über sein Haar. Am nächsten Morgen ist Peter tot. Er lächelt noch im Tod, hat seine Sonnenstrahlen hinübergenommen in das große Schweigen…“

 

 

(Titelfoto: In Spinnenweben eingebetteter Stacheldraht
an einer Weide bei Duisburg, Juli 2012)

 

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