Gedanken zum Krieg: Alfred Andersch zu „Fahneneid“ und Wehrpflicht (Veröffentlicht am 04.08.2025)
Der deutsche Schriftsteller Alfred Andersch, geb. am 04.02.1914 in München, gestorben am 21.02.1980 in Berzona /Schweiz, ist vor allem als kritischer Autor der Nachkriegsliteratur bekannt geworden. Er wurde 1940 zum ersten Mal in die Wehrmacht eingezogen und nahm am Westfeldzug gegen Frankreich teil, bevor er 1941 wegen seiner Ehe mit einer „Halbjüdin“ vorläufig entlassen wurde. Nach der Trennung von seiner Ehefrau wurde er 1943 erneut eingezogen, desertierte am 07.06.1944 bei Oriolo/Italien und lief zur US-Armee über.
In seinem autobiographischen Bericht „Die Kirschen der Freiheit“, aus dem Jahr 1952 schildert er seine Fahnenflucht und die dieser zugrundeliegende Motivation. Seine Schilderungen enthalten sehr lesenswerte Gedanken zum Thema individuelle Freiheit contra erzwungener Gehorsam, insbesondere zur Bedeutung des „Fahneneids“ der Wehrmacht und zur Gesetzmäßigkeit einer Wehrpflicht.
Er schreibt (Quelle: Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1968), S. 100 ff.):
„Habe nicht damals, auf jener Straße im Süden Umbriens, aber später in Gefangenschaft und in den Jahren, die dem Kriege folgten, nach der Lektüre von Briefen wie dem von Werners Vater vor allem, darüber nachgedacht, was Werner und die meisten anderen eigentlich band. So band, dass sie gar nicht auf den Einfall kamen, sie könnten etwas anderes tun, als beim Haufen bleiben. Es war einfach das »Beim-Haufen-Bleiben« selbst, der Herdeninstinkt, mit Terror und Propaganda unablässig in sie hineingetrommelt, der auch Werners Gesicht blass und verwischt machte. Man war schon fast selbständig, wenn man dem Trieb zum einfachen Aufgehen im Massenschicksal ein paar unklare Vorstellungen von Kameradschaft und Verteidigung des Vaterlandes beimischte oder einfach von Natur aus kampfeslustig war. Die meisten deutschen Soldaten bewegten sich in diesem Kriege nicht wie Träumer, auch nicht wie Betrunkene, sondern wie Gebannte; wer unter der Gewalt des bösen Blickes steht, sieht nicht mehr Iris und Pupille des Hypnotiseurs. Sein Bewusstsein ist ausgeschaltet, er fühlt nur noch den Bann.
Sie sollten das ruhig zugeben – es ist keine Schande – und auf jene letzte Ausflucht verzichten, die sie sich nachträglich zurechtgemacht haben: es sei der Eid gewesen, der sie verpflichtet habe.
Ich gebe zu, dass für viele Offiziere der Eid ein Problem darstellte. Aber ich habe während des ganzen Krieges unter den Mannschaften, bei denen ich mich befand, keinen einzigen Soldaten getroffen, der jemals ein Wort über den Eid verloren hätte. Und nicht etwa deshalb, weil man ihn als eine heilige Sache empfand, über die man nicht sprach.
Ich selbst habe den Eid an einem strahlend sonnigen Märzmorgen des Jahres 1940 auf dem Hof einer Kaserne bei Rastatt geschworen. Im zweiten Glied der angetretenen Ausbildungskompanie stehend, sprach ich, zusammen mit den anderen, in Absätzen und mit rechtwinklig erhobener Schwurhand den Text nach:
»Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.«
Während ich, ohne die Miene zu verziehen, diese Worte sprach, musste ich in meinem Inneren über den plumpen Versuch der Kanalratte [Bezeichnung des Autors für Hitler], mich an sie zu binden, lächeln. Schon die einfachste aller möglichen Überlegungen enthüllt ja die Absurdität dieses Eides.
Wer auch immer sich unter der Herrschaft der Kanalratte weigerte, einem Gestellungsbefehl zu folgen, wurde getötet oder mindestens auf viele Jahre in ein Konzentrationslager gebracht. Das gleiche Urteil hätte den getroffen, der, wäre er selbst, dem mächtigen Sog des Massenschicksals folgend, Soldat geworden, sich in letzter Minute geweigert hätte, den Eid zu leisten.
Der Eid wurde also unter Zwang geleistet. Auf seine Verweigerung stand der Tod. Er war damit null und nichtig.
Der Ungläubige kann die Worte einer Eidesformel sprechen, ohne dass dieser Vorgang mehr berührt als Lippen und Zunge.
Der Gläubige weiß, dass der Eid ihn in äußerstem Sinne an Gott bindet. Ein Gelübde, eine unter Eid gestellte Zeugenschaft wird immer freiwillig abgelegt. (Man kann davon nur entbunden werden, wenn die Wahrheit Gottes den Eid als wissentlich oder unwissentlich falschen erwiesen hat.)
Nirgends offenbart sich die dialektische Beziehung von Bindung und Freiheit stärker als beim Eid. Der Schwur setzt die Freiheit des Schwörenden voraus.
Der Eid ist ein religiöser Akt, oder er ist sinnlos. Die meisten deutschen Soldaten aber glaubten nicht an Gott, oder sie waren religiös indifferent in der Art, dass sie, außer in den Stunden der fernsten Einsamkeit oder der Todesnähe, nicht darüber nachdachten, ob sie an Gott glauben sollten oder nicht.
Aus diesem Grunde war die Mehrheit der. deutschen Soldaten überhaupt nicht eidesfähig.
Nicht eidesfähig war ferner ihr Führer, da er Gott leugnete und alle religiösen Regungen verfolgen ließ, weil sie dazu anregten, seine Person im Denken der Menschen auf das rechte Maß zurückzuführen. An die Stelle jenes Göttlichen, das den Menschen, also auch ihn selbst, überwölbte, setzte er einen leeren, aber immerhin mit den Zeichen des Schreckens behafteten Begriff: die Vorsehung.
Allein eidesfähig war der Gläubige, der sich entschloss, jenen Eid in vollem Bewusstsein zu leisten. Gab es solche Gläubige überhaupt? Wenn es sie gab, so waren sie mit Blindheit geschlagen. Sie nahmen eine schwere Sünde auf sich.
Denn sie mussten sich, wenn noch ein Funken Vernunft in ihnen lebte, sagen, Gott könne unmöglich daran interessiert sein, dass man der Kanalratte Gehorsam leistete, und unbedingten obendrein. Und wenn sie es mit dem Verstand nicht fassen konnten, so mussten sie es fühlen, dass die luziferische Ratte, die gegen Gott raste, die Heiligkeit des Eides schändete, indem sie ihn für sich in Anspruch nahm.
Aber ob Gläubige oder Ungläubige, sie waren alle Verwirrte.
Ihre Väter und Großväter und die Männer aller Generationen vorher hatten Soldaten-Eide geschworen. Indem sie schworen, hatte sich ein mächtiges, urtümliches Tabu auf sie herabgesenkt, und sie waren unfähig, hinter der gläsernen Glocke einer mit Worten beschworenen Heiligkeit die absolute Leere zu erkennen. Denn von einem bestimmten Punkt der Geschichte an hatte der Raum hinter der Glasglocke des Eides sich entleert.
Dieser Punkt ist die Französische Revolution. Höhnisch weist die konservative Faktion in allen Staaten der Erde nach, dass sie das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht einem der revolutionärsten Vorgänge der Weltgeschichte entnommen habe. Das ist wahr, aber ebenso wahr ist auch, dass sie der Großen Revolution eben nur dieses Prinzip stahl, nicht aber die Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und des Schutzes der Menschenrechte.
Doch wie dem auch sei – vom Beginn des 19. Jahrhunderts an begannen die modernen Staaten, alle Männer ihrer Territorien zum Soldaten-Dienst zu zwingen. Auch vorher schon hatte es, in gewissen Grenzen, Zwang gegeben. Aber das Prinzip war doch die Freiwilligkeit gewesen, auch wenn die Erscheinung des Soldaten sich langsam wandelte: vom Landsknecht zum Gardisten Friedrichs des Großen. Der Landsknecht schwor seinen Eid aus freien Stücken, und auf den Gepressten war kein Verlass.
Die allgemeine Konskription aber ließ dem Mann keine Wahl. Man zwang ihn, den Waffendienst zu leisten. Den Gezwungenen aber ließ man den alten, freien Landsknechts- und Gardisten-Eid schwören.
Das hatte noch einen Anschein von Sinn, solange die Mehrheit an Gott glaubte und die Spitze des Staates, der Fürst, sich als Fürst von Gottes Gnaden empfand. Solange die Idee des Vaterlandes noch eine allgemeine und das Recht, wenigstens in seinem Grunde, noch ein autonomes war.
Aber die allgemeinen Ideen schwanden, die Mehrheit glaubte nicht mehr an Gott, und eine riesige Minderheit begann sogar, den Gedanken des Vaterlandes abzulehnen. Was übrigblieb, war die Macht an sich, die allerdings für einen Teil der Menschen mythischen Glanz gewann, indes für einen anderen sich der imperialistische Charakter der Epoche entschleierte.
Im Verlauf dieses Prozesses wurde die allgemeine Wehrpflicht eine Maßnahme der Macht. Sie verlor jenen Sinn, den sie sowieso nur einen einzigen geschichtlichen Augenblick lang besessen hatte. Aus einem idealistischen Aufschwung geboren, entlarvte sie ein Jahrhundert später den Idealismus als Illusion. In jedem Gebrüll eines Hauptfeldwebels vollzog sich der 18. Brumaire des Napoleon Bonaparte aufs Neue.
Und aus dem in Freiheit geleisteten religiösen Akt des Eides, dem Rütli-Schwur freier Kämpfer, wurde ein Schamanen-Zauber, von Gepressten zelebriert, in die Leere der Kasernenhöfe hineingesprochen und nicht einmal widerhallend von den Wänden eines gestorbenen Glaubens.
Das war der Grund, warum ich während des ganzen Krieges unter den Mannschaften, bei denen ich mich befand, keinen einzigen Soldaten getroffen habe, der jemals ein Wort über den Eid verloren hätte. In der Absurdität des Krieges der Kanalratte fühlte ein jeder dumpf die Absurdität der allgemeinen Wehrpflicht und des Soldaten-Eides. In jener reinen Ausprägung, die der zugleich imperialistische und ideologische Krieg des neuesten geschichtlichen Augenblickes durch Hitler erfahren hat, wurden Wehrpflicht und Eid nicht mehr als Bindung erfahren, sondern als bedingungsloser Zwang. Eine Epoche ging zu Ende.
Es erwies sich, dass Zwang zum Soldaten-Dienst und Eid gegen die Grundrechte des Menschen verstoßen. Auch dann, wenn ein modernes Machtsystem noch so human ist, einigen wenigen ein Gewissen zu gestatten, das den »Wehr«-Dienst verweigert.
Die Entscheidung zum Kampf auf Leben und Tod setzt den freien Mann voraus.
Der Eid kann nur von Gläubigen einem Gläubigen gegenüber geleistet werden.
Das Heer der Zukunft kann nur eine Freiwilligen-Armee sein. Nach der Lage zu urteilen, in der sich der Glaube heute befindet, ist der Eid in einer solchen Armee nicht denkbar.
Eine solche Freiwilligen-Armee wird riesig sein, wenn sie die gerechte Abwehr eines ungerechten Angreifers vorbereitet. Bei Ausbruch des Krieges werden ihr viele weitere Freiwillige zuströmen und jene unabsehbaren Scharen von Partisanen Hilfe leisten, die eine unmittelbare Folge der Untaten eines Gegners sind, der dem Glanz der Macht verfallen ist.
Diejenige Gesellschaft, die ein solches Heer aus sich heraus stellt, wird, mag sie auch viele Schlachten verlieren, ja nicht einmal den Sieg erringen, dennoch die Fundamente der Zukunft errichten. Noch im Unterliegen wird ihr Geist, als der überlegene, den Sieger zum Verlierer des geschichtlichen Sinnes machen.
Der Zwangsarmee alten Stils gegenüber aber kann sich der Mensch, wann immer er nur will, auf seine Grundrechte berufen.
Gegen den äußersten Zwang einer bedingungslosen Konskription und eines befohlenen Eides kann er die äußerste Form der Selbstverteidigung wählen: die Desertion.“
Deutsche Soldaten haben sich auch heute kraft Gesetzes förmlich ihre Treu und Tapferkeit zu bekennen. Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit haben einen Diensteid zu leisten, freiwillig Wehrdienst Leistende oder Wehrpflichtige schulden ein „feierliches Gelöbnis“. Den Inhalt des Diensteides und des „feierlichen Gelöbnisses“ bestimmt § 9 des Soldatengesetzes jeweils wie folgt:
„(1) Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit haben folgenden Diensteid zu leisten:
»Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.«
Der Eid kann auch ohne die Worte »so wahr mir Gott helfe« geleistet werden. Gestattet ein Bundesgesetz den Mitgliedern einer Religionsgesellschaft, an Stelle der Worte »ich schwöre« andere Beteuerungsformeln zu gebrauchen, so kann das Mitglied einer solchen Religionsgesellschaft diese Beteuerungsformel sprechen.
(2) Soldaten, die freiwilligen Wehrdienst nach § 58b oder Wehrdienst nach Maßgabe des Wehrpflichtgesetzes leisten, bekennen sich zu ihren Pflichten durch das folgende feierliche Gelöbnis:
»Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.«“
(Titelfoto: Grabkreuze von Kriegsopfern auf dem Waldfriedhof Aachen,
Mai 2022)
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