Feldpostbriefe: Brief des russischen Soldaten Wolodja Jackevich über die Kämpfe an der Ostfront im Juli 1942 und die bevorstehende „furchtbare Rache am Feind“ (Veröffentlicht am 31.10.2025)
Feldpostbriefe russischer Soldaten scheinen zumindest in Westeuropa vergleichsweise selten publiziert worden zu sein, jedenfalls sind bislang nur wenige auffindbar. Eine Ausnahme stellt das Werk „Junge deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad – Briefe, Dokumente und Darstellungen“ von Jens Ebert aus dem Jahr 2018 dar, das auch die Übersetzungen einiger im Rahmen der Kämpfe um Stalingrad zwischen Sommer 1942 und Anfang 1943 verfasster russischer Feldpostbriefe enthält. Das in diesen Briefen zum Ausdruck kommende Denken und Fühlen russischer Soldaten, ihre Bewertung der Kämpfe und die schon sehr frühzeitige, letztlich zutreffende Bewertung des Kriegsausgangs sind – vor allem auch in Kenntnis des Handelns der deutschen Führung und der von ihr noch bis kurz vor Kriegsende verbreiteten Durchhalteparolen – ebenso aufschlussreich wie erstaunlich.
So schreibt der damalige Rotarmist Wolodja Jackevich am 03.07.1942 den folgenden Brief (Quelle: Ebert, Junge deutsche und sowjetische Soldaten in Stalingrad – Briefe, Dokumente und Darstellungen (2018), S. 184 ff.):
„Lieber Tolja, ich wünsche dir gute Gesundheit!
Deinen Brief habe ich vor einigen Tagen erhalten, doch erst heute finde ich ein wenig Zeit, dir zu berichten.
Das Leben geht vorläufig seinen alten Gang, ohne Veränderungen. Es gibt nichts Neues, außer dass der Inhalt der Arbeit und der Betätigung ein anderer ist.
In dieser Hinsicht bringt jeder Tag irgendetwas Besonderer Neues. Wann sich die Lage ändern wird, weiß niemand.
Als wir aus dem Westen wegfuhren, dachten wir, es sei nicht für lange. Doch nun sind schon mehr als zwei Monate vergangen, seit wir uns im Hinterland rumdrücken. Wir kümmern uns zwar um eine besonders wichtige Sache, nämlich die Erfüllung des Befehls Nr. 130 des Genossen Stalin zum 1. Mai doch viele unserer Leute sind die Bedingungen im Hinterland leid und alle wollen so schnell wie möglich an die Front, um den Hauptauftrag des Befehls zu erfüllen, nämlich die Hitlerschweine noch in diesem Jahr 1942 zu zerschlagen. Erinnerst du dich an die Situation im Juli 1941, Tolja, und wenn man dann die heutige Lage betrachtet – was für ein riesiger Unterschied! Was der Genosse Stalin in seiner Rede vom 3. Juli 41 zu den vorübergehenden Erfolgen der Deutschen sagte, hat sich voll und ganz bewahrheitet. Die Zerschlagung der Deutschen ist unausweichlich, auch wenn es ihnen auf einzelnen Abschnitten auch jetzt noch gelingt, ein Kräfteübergewicht zu schaffen und verhältnismäßig geringe Erfolge zu erzielen, wie zum Beispiel auf dem Abschnitt Sewastopol. Nun ist für alle offensichtlich, dass Hitler-Deutschland im Verlauf des Kriegs schwächer geworden ist und die Kräfte des sowjetischen Volkes immer stärker werden, die nicht nur auf den Schlachtfeldern heldenhaft kämpfen, sondern nicht minder heldenhaft alle Schwierigkeiten und Entbehrungen im Hinterland und an der Arbeitsfront meistern.
Ich glaube ohne Einschränkungen daran, dass unsere Kräfte, unser Mut, unser Siegeswille und unser Hass auf den Feind ausreichen werden, um nicht nur den Krieg zu gewinnen, sondern auch das Hitler-Ungeziefer in Schutt und Asche zu legen und alle ihre Frauen und sonstiges Gesindel zu zwingen, auf ihrer eigenen, gemeinen Haut all das zu spüren, was unser Volk, unsere Verwandten und Liebsten erdulden mussten.
Das wird eine furchtbare Rache am Feind für seinen barbarischen Versuch, unsere Heimat und unser Volk zu vernichten.
Lieber Tolja, ich kann einfach nicht vergessen, was ich innerhalb eines Jahres verlieren musste. Kürzlich habe ich über das zentrale Auskunftsbüro erfahren, dass eine Bekannte aus Ufa in Tambow lebt. Ich habe eine Anfrage an das Adressbüro geschickt, doch bisher noch keine Antwort bekommen. Vielleicht weiß sie etwas über Lena und erzählt es mir. Die Nachforschungen in den verschiedenen Verwaltungsgebieten waren erfolglos – sie sind nirgendwo zu finden. Es ist schrecklich, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie alle tot sind oder unwahrscheinlich große Entbehrungen erleiden. Daher möchte ich auch so schnell wie möglich an die Front, so schnell wie möglich in heimatliche Gefilde und erfahren, was und wie es passiert ist. Und dort wird es dann einfacher und klarer sein, den Zweck des Lebens zu ergründen.
Verzeih, mein Lieber, dass ich deine Aufmerksamkeit mit solchen Lappalien in Anspruch nehme.
Über das Wetter gibt es nichts zu berichten, die Kälte hält sich. Noch badet niemand in der Oka. Doch die Ernte ist hier gut. Die Leute arbeiten einfach heldenhaft in den Fabriken, den Genossenschaften und auf den Feldern. Die Besitzer der Wohnung, in der ich wohne, gehen morgens um 7 weg und kommen abends um 11 zurück, fast wie bei uns – 17 Stunden am Tag. Ihre Lebensbedingungen sind die gleichen oder beinahe die gleichen wie bei uns.
Über meine Lebensbedingungen gibt es an Gutem nichts Besonderes zu berichten. Ich bekomme 0,7 Brot, selten Suppe mit einem Tropfen Pflanzenöl, manchmal Grütze, ca. 20 Gramm Zucker und selten 40-50 Gramm Machorka-Tabak. Kurzum kein Grund, neidisch zu werden. In einigen Tagen schicke ich ein Bild von mir auf Papier, dann wirst du sehen, dass ich noch derselbe bin, den du in Polozk gesehen hast. An den freien Tagen kauft meine Wirtin Milch und Kartoffeln, um ein Abendessen zu bereiten. Doch das Geld reicht für 2-2,5 Wochen, und die übrige Zeit müssen wir so leben, das heißt auf Staatskosten. Aber das ist überhaupt kein Grund, sich gekränkt zu fühlen. Vielleicht stehen uns große Schwierigkeiten bevor, und da muss man auf alles vorbereitet sein.
Von Kostja habe ich schon seit langem keinen Brief bekommen. Demnächst müsste der nächste kommen, sie sind genau einen Monat unterwegs.
Von Polja bekomme ich häufiger Briefe. Ich bin ihr sehr dankbar, denn durch ihren Inhalt und ihre Wärme sind ihre Briefe einfach herzerwärmend und aufmunternd, sie helfen mir, alle möglichen Schwierigkeiten auf der Arbeit und im Leben zu überwinden.
Hiermit, lieber Tolja, möchte ich vorerst schließen. Schreib bitte, sobald du Gelegenheit dazu hast, und warte nicht erst auf meine Briefe. Jede Nachricht von dir ist für mich hier unter fremden, kaum bekannten Menschen eine Freude.
Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Arbeit, Gesundheit sowie Glück und Gelingen im Leben.
Bleib gesund!
Ich warte auf deine Antwort und umarme dich
dein Wolodja“
Bekanntlich ließ die angekündigte „furchtbare Rache am Feind“ nicht lange auf sich warten. Diese zu verhindern, war für viele deutsche Soldaten ein maßgeblicher Grund für die Fortsetzung des Kampfes selbst in aussichtslosester Lage. „Wir müssen den Krieg gewinnen, sonst Gnade uns Gott!“ war eine im damaligen Deutschland allgegenwärtige Erkenntnis, die letztlich vielfach durch den entsetzten Ausruf „Die Russen kommen!“ abgelöst wurde, der den überlebenden Betroffenen Zeit ihres Lebens in schmerzhafter Erinnerung blieb.
Möge dies nie in Vergessenheit geraten.
(Titelfoto: Grab des zweijährigen russischen Jungen Feodor Strelzow
auf dem Soldatenfriedhof Brandau/Odenwald, August 2025)
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