Feldpostbriefe: Letzte Briefe aus Stalingrad – Brief eines namenlosen deutschen Soldaten über das Sterben an der Ostfront (Veröffentlicht am 09.09.2025)

Er schreibt in einem Brief über die Situation (Quelle: Letzte Briefe aus Stalingrad, Brief Nr. 10, S. 19 f.):

 

„… Du bist mein Zeuge, dass ich mich immer gesträubt habe, weil ich Angst vor dem Osten hatte, vor dem Kriege überhaupt. Ich war nie Soldat, immer nur uniformiert. Was habe ich davon? Was haben die anderen davon, die sich nicht gesträubt haben und keine Angst hatten? Ja, was haben wir davon? Wir, die Statisterie des leibhaftigen Unsinns? Was haben wir vom Heldentod? Ich habe den Tod ein paar dutzendmal auf der Bühne gespielt, aber nur gespielt, und Ihr saßt im Plüschsessel davor, und mein Spielen vom Tode erschien Euch echt und wahr. Es ist erschütternd zu erkennen, wie wenig das Spiel mit dem Tode zu tun hatte.

Der Tod musste immer heroisch sein, begeisternd, mitreißend, für eine große Sache und aus Überzeugung. Und was ist es in Wirklichkeit hier? Ein Verrecken, Verhungern, Erfrieren, nichts weiter wie eine biologische Tatsache, wie Essen und Trinken. Sie fallen wie die Fliegen, und keiner kümmert sich darum und begräbt sie. Ohne Arme und Beine und ohne Augen, mit zerrissenen Bäuchen liegen sie überall. Man sollte davon einen Film drehen, um den »schönsten Tod der Welt« unmöglich zu machen. Es ist ein viehisches Sterben, das später einmal auf Sockeln aus Granit mit »sterbenden Kriegern«, die Binde um den Kopf oder den Arm, veredelt wird.

Hymnen, Romane und Weihgesänge werden geschrieben und ertönen. Und in den Kirchen wird man Messen lesen. Ich mache das nicht mehr mit, denn ich habe keine Lust, in einem Massengrabe zu verfaulen. An Professor H. schrieb ich Ähnliches. Du und er werdet von mir wieder hören. Wundert Euch nicht, wenn es eine Zeitlang dauert, denn ich habe beschlossen, mein Schicksal in meine eigenen Hände zu nehmen.“

 

Der Verlag über das Buch »Letzte Briefe aus Stalingrad« (a.a.O., S. 67 ff.):

 

„Über die Herkunft der »Letzten Briefe aus Stalingrad« ließe sich eine abenteuerliche Geschichte schreiben, die Geschichte einer überorganisierten Partei- und Kriegsbürokratie mit ihren Zensoren, Schnüfflern und Bütteln. Denn die Briefe durchliefen vom Tag ihrer Beförderung aus dem Stalingrader Kessel an alle Stationen dieser Bürokratie. Man wollte aus ihnen »die Stimmung in der Festung Stalingrad kennenlernen« und ordnete deshalb im Führerhauptquartier an, die Post zu beschlagnahmen. Die Anordnung wurde als Befehl vom Oberkommando des Heeres an die Heeresfeldpost-Prüfstelle weitergegeben. Als die letzte Maschine aus dem Kessel in Nowo-Tscherkask landete, wurden sieben Postsäcke beschlagnahmt. Das war im Januar 1943. Die Briefe wurden geöffnet, Anschrift und Absender entfernt. Danach wurden sie, nach Inhalt und Tendenz geordnet, in sorgfältig verschnürten Bündeln dem Oberkommando der Wehrmacht übergeben.

Die statistische Erfassung der »Stimmung« besorgte die Heeresinformations-Abteilung und teilte sie in fünf Gruppen ein. Es ergab sich folgendes Bild:

Positiv zur Kriegführung: 2,1 %

Zweifelnd: 4,4 %

Ungläubig, ablehnend: 57,1 %

Oppositionell: 3,4 %

Ohne Stellungnahme, indifferent: 33,0 %

Nach der statistischen Erfassung und Kenntnisnahme gelangten die Briefe mit den übrigen Dokumenten über Stalingrad, mit Führeranweisungen, Befehlen, Funksprüchen und Meldungen – im ganzen etwa zehn Zentner Material –, in die Obhut eines PK-Mannes, der beauftragt worden war, ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben. Die oberste deutsche Kriegführung hätte sich gerne gerechtfertigt, aber die Sprache der Dokumente war eindeutig. So wurde das Buch verboten. »Untragbar für das deutsche Volk!« entschied der Propagandaminister. Danach wanderten die authentischen Abschriften der Briefe in das Heeresarchiv Potsdam, wo sie wenige Tage vor der Einnahme Berlins in Sicherheit gebracht und in unsere Tage herübergerettet wurden.“

 

 

(Titelfoto: Grabsteine auf dem Soldatenfriedhof Ittenbach,
August 2025)

 

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